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[462] Irgendeine Zeit lang hat jeder Mensch Poesie. Eigentlich ist ein Affekt schon eine kurze; und besonders ist die Liebe, wenigstens die erste, gleich der Malerei eine stumme Dichtkunst. So fängt denn das Leben, wie eine Schule und Kirche, mit Singen an; und später kommen die Schulübungen und Bußpredigten. Der Musensohn betritt später seine Amtstelle und sein Ehebett; dann singt er wie ein Nachtigallenmännchen, das sich nach der Begattung aus seinem Busche weniger als Flöte denn als Kröte hören läßt. Eine schöne, aber entgegengesetzte Erscheinung ist, daß große, aber vielseitige Kräfte, welche in der Jugend noch das Ägypten der Wirklichkeit bearbeiteten und bekämpften, im Alter auf den Höhen ihrer Gesetzgebung den Glanz der Dichtkunst warfen; so glänzte Lessings bejahrtes Angesicht in seinem Nathan und in seinem Faustkampfe gegen Theologen poetisch; in seinen jugendlichen Versuchen dichtete mehr die Prose. – Es gibt überhaupt Menschen, die ihre Jugend erst im Alter erleben.
Sobald der Jüngling nur nicht sein dichterisches Empfangen für Erzeugen hält und die geistigen Geschlechter verwechselt und mit einem eingebildeten in der Büchermesse erscheint: so ist nichts[462] zu tadeln, ja sogar wenn ers tut; sondern man erfreue sich, daß eben dem Jugendalter der Dichter, wie der hohe Tugendlehrer, die heiligsten Dienste tut, und daß beide viel heißer und mehr senkrecht in dasselbe eingreifen als in das Spätalter, auf welches ihre Strahlen schon seitwärts und schief auffallen mit geschwächter Wärme. Die selberschaffende Poesie verwelkt im Manne, aber genug, wenn sie früher den Boden für die Wurzeln jeder fremden aufgelockert hat.
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Vorschule der Ästhetik
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