§ 7
Das Romantische außerhalb der Poesie

[466] Jede Dichtart hat unter den Körpern ihre Ebenbilder, die uns anregen. So ist z.B. die Musik romantische Poesie durch das Ohr. Diese als das Schöne ohne Begrenzung wird weniger von dem Auge vorgespiegelt, dessen Grenzen sich nicht so unbestimmbar wie die eines sterbenden Tons verlieren. Keine Farbe ist so romantisch als ein Ton, schon weil man nur bei dem Sterben des letztern, nicht der erstern gegenwärtig ist, und weil ein Ton nie allein, sondern immer dreifaltig tönt, gleichsam die Romantik der Zukunft und der Vergangenheit mit der Gegenwart verschmelzend. Daher ruft unter den geschlagnen Instrumenten die Glocke[466] am meisten die romantischen Geister herbei, weil ihr Ton am längsten lebt und stirbt; dann kommt die Harmonika unter den gestrichnen, und darauf unter den geblasenen das Waldhorn und die Orgel; und bei dieser wieder ziehen uns die Töne des Pedals tiefer ins romantische Abendreich hinein als die Töne des Diskants.

Dem Auge erscheint das Schöne ohne Begrenzung am meisten als Mondschein, dieses wunderbare, weder dem Erhabnen, noch dem Schönen verwandte Geisterlicht, das uns mit schmerzlicher Sehnsucht durchdringt, gleichsam die Morgendämmerung einer Ewigkeit, die auf der Erde niemals aufgehen kann. So ist ferner die Abendröte romantisch, das Morgenrot aber erhaben oder schön, und beide sind Fahnen der Zukunft; aber jene verkündigt eine fernste, dieses eine nächste. So ist eine grenzenlose grüne Ebene romantisch wie ein fernes Gebirg; ein nahes aber und die Wüste sind erhaben.

Das Reich des Romantischen teilt sich eigentlich in das Morgenreich des Auges und in das Abendreich des Ohrs und gleicht darin seinem Verwandten, dem Traum. Unsere verschiedenen Sinne greifen ganz verschieden in unsere Beglückung ein. Die beiden obersten, Auge und Ohr, können uns nur kleine Schmerzen geben, aber große Freuden zuführen; denn was ist alles Leiden durch eine Mißfarbe und Zerrmalerei gegen das Freudenreich in einer Bildergalerie, oder was sind Mißtonstiche gegen die Himmelleiter der Tonleiter, auf der wir einen neuen Himmel und eine neue Erde ersteigen! – Indes das Überwiegen beider Sinne in Zahl und Stärke der Gaben über Zahl und Stärke ihrer Qualen haben wir zum Teil der Phantasie zu danken, welche in die Schöpfungen des körperlichen Sinnes sogleich die ihrigen einmischt und sie damit fortsetzt. – Der Geruch, als Mittelstand zwischen den höhern und tiefern Sinnen, kann ebenso stark und oft verletzen als ergötzen. Der Geschmack, der bloß dem Körper hingegeben ist, und dem statt des Geistes noch der Magen mithilft und den Ekel zumischt, kann allein schon vermittelst des Ekels noch außer seinen Teufelsdrecken dem Genusse mehr nehmen als aus allen seinen Konditoreien reichen. – Unter allen aber ist[467] der niedrigste und doch breiteste Sinn, das Gefühl, der wahre Marterkittel und das Härenkleid des Leibes und Lebens, und dünn und schwach legt er das bißchen Freudenhonig auf die von ihm gegrabne Wundenreihe auf Bei diesem Tiersinne läßt der Körper am wenigsten die Phantasie oder Seele als Mitarbeiterin zu; daher denn in den Traum – diese Kinderstube oder dieser infantum limbus der Phantasie – nur die höhern Sinne, Auge und Ohr, ihre verklärten Zöglinge schicken, aber nur unkenntlich und selten die tiefern Sinne ihre rohern Geburten.

Die romantische Poesie wird folglich von Auge und Ohr bevölkert. Indes wird ihr Himmel mit seinem Blau doch eine schwächere Farbe tragen als ihre Hölle mit ihrem Gelb; denn jener ist voll Sehnsucht, weil er die Seligkeit an tiefe Fernen malt, und diese enthält die kalten Geisterschauer, welche hinter den hellen Freuden unten am Horizonte von etwas Wolkigen heraufwehen, das unter ihm sich ungemessen versenkt.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 466-468.
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