§ 48
Die Feinheit

[181] Zum unbildlichen Witze rechn' ich auch die Feinheit. Man könnte sie zwar das Inkognito der Schmeichelei, die poetische reservatio mentalis des Lobes oder auch das Enthymema des Tadels nennen und mit Recht; der Paragraph aber nennt sie das Zeichen des Zeichens. – »Quand on est assez puissant pour la grace de son ami, il ne faut demander que son jugement.« Unter jugement ist aber ebensowohl damnation als grace begriffen und möglich; hier wird nur die Phantasie gezwungen, jugement und grace für eins zu nehmen, die Art für die Unterart. So wenn de la Motte bei einer großen Wahl zwischen Tugend und Laster sagt: hésiter ce seroit choisir. Daß hier die Wahl überhaupt die schlimme bedeutet, hésiter wieder die Wahl – das Zeichen des Zeichens –, gewährt durch Kürze und durch den Schein einseitiger Notwendigkeit den Genuß. Als ein Gascogner einer ihm unglaublichen Erzählung höflich beigefallen war, fügt' er bloß bei: mais je ne répéterai votre histoire à cause de mon accent. Der Dialekt bedeutet den Gascogner, dieser die Unwahrheit, diese den einzelnen Fall – hier sind fast Zeichen der Zeichen von Zeichen.

Damit nun ein Mensch fein reden könne, gehört außer seinem Talente noch ein Gegenstand dazu, der zum Verstehen zwingt. Daher sind die Feinheiten, welche auf Geschlecht-Zweideutigkeiten beruhen, so leicht; denn jeder weiß, daß er, sobald er aus einem zweideutigen Satze nicht klug werden kann, Eindeutigkeit darunter zu suchen habe, das Bestimmteste unter dem Allgemeinsten. Die europäische Phantasie verdirbt in jedem Jahrhunderte dermaßen mehr, daß es am Ende unmöglich wird, hierin nicht unendlich fein zu sein, sobald man nicht weiß, was man sagt.

Ebenso kann man nur Personen ein feines Lob erteilen, welche[181] schon ein entschiedenes besitzen; das entschiedene ist das Zeichen, das feine das Zeichen des Zeichens; und man kann alsdann statt des lobenden Zeichens nur das nackte Zeichen desselben geben. Daher wird – wo nicht die Voraussetzung voraussetzt, es sei aus Selbstbewußtsein oder Zartheit – die höchste Feinheit am leichtesten ihr Gegenteil. Unter allen europäischen Zueignungen sind (wie die französischen die besten) die deutschen die schlechtesten, d.h. die unfeinsten, d.h. die deutlichsten. Denn der Deutsche setzt alles gern ein wenig ins Licht, auch das Licht; und zur Feinheit – dieser Kürze der Höflichkeit – fehlt ihm der Mut.

Der Verfasser dieses darf ohne Unbescheidenheit hoffen, immer so zugeeignet zu haben, daß er so fein war wie wenige Franzosen, – was allerdings ein wahres Verdienst beweiset, wenn auch nicht seines.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 181-182.
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