2. Auf die Steinauer- und Sonnenkalbische Verbindung

[4] 1740.


J'ai senti ces transports connus de peu d'humains,

Que la verité nous inspire,

Quand on en a percé les voiles incertains.

- - - - - - - - - - - - - -

Mais depuis que mon coeur a gouté de ta flamme,

Il ne sent plus que pour l'amour.

Haller.

Vergebens prahlt ihr, eitle Weisen,

Die Wissenschaft uns anzupreisen,[4]

Mit der ihr euch so sehr erhebt;

Der Wahrheit Reiz, der Weisheit Stärke

Rühmt ihr umsonst, zeigt es im Werke,

Daß ihr allein für diese lebt.


Das Zärtlichste, das wir empfinden,

Die Liebe selbst zu überwinden,

Sind eure Kräfte viel zu klein.

Beherrscht die Weisheit eure Sinnen:

Was räumt sie andern Herrscherinnen

Den Platz so bald und willig ein?


Für Kenntniß, welcher nachzustreben

Gelehrte selten sich erheben,

Hast du, o Freund, bisher gebrannt:

Dir sind durch ihre hohe Lehre

Des Briten, Deutschlands, Frankreichs Ehre,

Lock', Leibniz, Varignon bekannt.


Kein Glücke konnte dich sonst rühren,

Als tiefer Wahrheit nachzuspüren,

Wo Forschen uns mit Lust bemüht:

So weiß oft sprödes Widerstreben

Der Schönen stärkern Reiz zu geben,

Wir folgen ihr, weil sie uns flieht.


Doch selten wird man lange dienen

Geliebten, die nur reizend schienen,

Eh' wir was Reizenders gekannt:

O Freund, durch Wilhelminens Küsse

Sind Zahlen, Striche, tiefe Schlüsse,

Lock', Leibniz, Varignon verbannt.


Zu schwache Kraft von trockner Wahrheit!

Sie strahlt umsonst mit matter Klarheit,

Ein Blick voll Feuer dämpft sie bald:

Gewisser, als Euklidens Lehren,

Ist jeder Ausspruch zu verehren,

Der aus zwo holden Lippen schallt.
[5]

Wie, Freund, der edelste der Triebe,

Der Trieb zu wissen, weicht der Liebe?

Die Weisheit fliehet deinen Sinn?

Nein, ohne Furcht, dich zu verlieren,

Sieht sie die Liebe triumphiren,

Und bleibt doch deine Herrscherinn.


Der Trieb, der nach der Wahrheit brennet,

Der ist's, der uns von Thieren trennet.

Er macht uns erst der Menschheit werth:

Und tugendhafter Liebe Flammen,

Der Menschheit Wirkung zu verdammen,

Das hat er nie von uns begehrt.


Mit Augen, von Vernunft gelenket,

Durchgeht, wer mehr, als Andre denket,

Das Alles, was man Güter nennt:

Nie bleibt sein Blick am Aeußern haften,

Wo er, geschärft durch Wissenschaften,

Den innern Fehler bald erkennt.


Nur euch, von Wahrheit leere Seelen,

Kann Schein verblenden, Sehnsucht quälen,

Erhaltnes Gut ein Ekel seyn:

Zufriedne Wahl aus sichern Gründen,

Des Glückes zärtlichstes Empfinden,

Das giebt die Weisheit ganz allein.


Nie wird sie mit zu strengen Lehren

Den Ausbruch eines Triebes stören,

Den die Natur in uns gesenkt:

Sie selbsten wird ihm Stärke geben,

Nur daß durch sie sein glücklich Streben

Sich nach dem wahren Gute lenkt.


O wollte mir ein Lied gelingen!

Vergnügter Freund, dein Glück zu singen,

Dein Glück, das deinen Wunsch erreicht![6]

O fühlt' ich jetzo Dichterflammen!

Stark, weil sie von der Weisheit stammen,

Ein Feuer, das dem deinen gleicht.


Ich bin zu schwach für dies Entzücken,

Da Kraft, es lebhaft auszudrücken,

Selbst dem, der es empfunden, fehlt.

Mehr, als durch meiner Dichtkunst Loben,

Wird die, die du gewählt, erhoben,

Nur dadurch, daß du sie gewählt.


Ihr, denen nichts kann widerstreben,

Ihr, die, uns alles Glück zu geben,

Die Vorsicht von dem Himmel schickt:

Erhabne Weisheit! holde Liebe!

Vereint, verstärket eure Triebe,

Und machet dieses Paar beglückt.


- - the nearest to the ioys above

Is the chast rapture of a vertuous love.

Cibber.

Quelle:
Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Theil 1 und 2, Teil 2, Berlin 1841, S. 4-7.
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