Ode auf eine griechische Urne

[15] Liebkeusche Braut der steten Stille du,

Du Pflegekind von Tag und Tag und Schweigen!

Welch blumiges Waldgeschichtchen schilderst du –

Und sagst es süßer als ein Reimereigen?

Welch blattumrankte Mär umstreicht dein Rund

Von Göttern oder Menschen oder beiden

In Tempe oder in Arkadiens Hängen?

Wer sind sie, die an Mädchenangst sich weiden?

Was jagt so toll? Was ringt und flieht so bunt?

Welch Flötenlied? Welch lustberauschtes Drängen?


Gehörtes Lied ist süß, doch süßer ist

Ein ungehörtes: sanfte Flöte, weiter!

O wie du, klanglos, mehr als köstlich bist,

Du geisterhaft-lautlosen Lieds Begleiter!

Nie kannst du, Jugend, lassen von dem Sang,

Wie nie die Bäume hier ihr Laub verlieren;

Du keck Verliebter, nie, nie kannst du küssen,

So nah du auch dem Ziel – doch sei nicht bang:

Nie welkt sie! Wirst du auch entbehren müssen,

Wird Liebe dich und Schönheit sie stets zieren.


Glücklicher Baum in ewiger Frühlingszeit,

Nie sinken deiner Zweige Blätter nieder.

Glücklicher Sänger, ohne Müdigkeit

Für immer flötend immer neue Lieder!

Und Liebe, Liebe, voll von größerem Glück:

Für immer heiß und der Erfüllung harrend,

Du immer jagende, du immer junge!

Wie steht vor dir lebendige Gier zurück,

Die Herzen satt macht, im Genuß erstarrend,

Die Hirn erhitzt und dürr versengt die Zunge!
[16]

Und wer sind diese mit dem Priester hier

Und jener Färse? Welcher Gottheit danken

Im Grünen sie mit schönstem Opfertier,

Dem Kränze blühen um die seidnen Flanken?

Welch kleine Stadt an Fluß, in Bergeshain,

An Seestrand, Stadt mit Burg zu Wehr und Frieden.

Steht diesen frommen Tag mit leeren Gassen?

Du kleine Stadt wirst ewig stumm nun sein,

Denn keinem wird die Heimkehr je beschieden,

Dir kundzutun, warum du so verlassen.


O attische Form, so schön wie nie erschaut,

Um die sich marmorn Mann und Mädchen ranken,

Mit vollen Zweigen und zertretnem Kraut,

Schweigende Form! du rufst in uns Gedanken,

Wie Ewigkeit es tut: kalt Schäferspiel!

Sind wir mit unserm Leid dahin, so findest

Du andres Leid und wirst in Kümmernissen

Den Menschen trösten, dem du dies verkündest:

»Schönheit ist Wahrheit, Wahr ist Schön!« – Nicht viel,

Nur dies weißt du – und brauchst nicht mehr zu wissen.

Quelle:
Keats, John: Gedichte. Leipzig [1910], S. 15-17.
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