1

[834] Die autobiographischen Belustigungen der »Gegenwart« fanden bisher, soviel ich wahrgenommen, fast nur unter Herren statt, welche über ihr Leben schrieben, insofern sie es überhaupt mit Schreiben zugebracht. Es handelt sich mithin um ein Bekenntnis, mit wieviel Lust oder Leiden man sich in diese schreibende Welt gestellt sehe und wie man in dieselbe hinein geraten.

Forschen wir nach Stimmen über den Stand des Schreibers im allgemeinen, so tönen dieselben verschieden.

In einem alten Liede heißt es:


Ein feder hintern oren,

zu schreiben zugespitzt,

tut manchem heimlich zoren,

da vorn der schreiber sitzt

für andern knaben allen;

ob man in schreiber heißt,

so tuts den frewlein gfallen

und liebt in allermeist.


Das scheint nicht ungünstig zu lauten; allein in einem andern Liede heißt es:


Mein mueterlein das fraget aber mich:

ob ich wolt ein schreiber? »awe nein!« sprach ich,

»näm ich denn ein schreiber zu einem manne,

so hieß man mich frau schreiberin[834]

und ein dintenzetterin,

wär mir ein schande,

kein er im lande!«


Dies klingt schon weniger vorteilhaft. Freilich scheint es sich in beiden Zeugnissen mehr um Amts-, Rats- oder Gerichtsschreiber zu handeln, um eine Art kleinen Kanzlertumes. Und auch in dieser Richtung haben sich die Dinge geändert. Die Zeit ist lange dahin, da der Schreiber, das Tintenfaß am Gürtel, bei schönem Wetter Hexen und Ketzer verbrannte, einen Ratsschmaus einrichtete, mit Herold und Trompeter durch die Stadt ritt, die Frühlingsmesse auszurufen, oder gar mit dem Banner ausrückte, um als Feldschreiber die glorreiche Züchtigung der Widersächer an den Rat zu berichten. Von alledem ist nicht mehr die Rede. Jahraus und -einsitzt man am stillen Schreibtisch und kämmt zerzauste Eisenbahnkonzessionen aus oder paragraphiert Gesetzentwürfe, wie sie aus den Zusätzen und Abstimmungen von einem oder zwanzig Dutzenden turbulenter Köpfe hervorgegangen sind, vielleicht in einem kurzen Jahrzehnt zum zweiten und dritten Mal über denselben Gegenstand. Indem man die Promulgation des Neuesten besorgt und in dem abgegriffenen Handexemplar der Gesetzsammlung, das schon von den Randglossen entschlafener Vorgänger bedeckt ist, wieder Seite um Seite aufgehobener Bestimmungen durchstreicht, die man vor wenig Jahren vielleicht selbst in diesem papiernen Tempel aufgehangen hat, empfindet man nicht immer den rechten Respekt vor dem frischen Wehen des Lebens, dem stürmischen Vorschritt des Volkes, der solchen Wechsel bedingt. Der Schreiber fühlt sich nur als Danaide mit dem Wassersieb in der Hand, er sieht nur die Vergänglichkeit der Dinge, hört nur das Abschnarren eines Uhrwerkes, aus welchem die Hemmung weggenommen ist. Für seine Person wäre er friedlich und genügsam; er bedürfte nicht so vieler Änderungen, um mit seinen Nebenmenschen auszukommen, und so sehr er Freiheit und Recht liebt, so wenig liegt ihm an einem bißchen mehr oder weniger Detail, an der ewigen Topfguckerei. Wenn der alte Thorwaldsen etwa aufmerksam gemacht wurde, wie seine Marmorarbeiter die Modelle im einzelnen zuweilen nicht sauber und genau genug ausführten, soll er geantwortet haben, er[835] wisse das wohl, allein es komme ihm hierauf nicht an, er sehe aufs Ganze. Seine Werke seien hoffentlich so beschaffen, daß sie ein bißchen bessere oder schlechtere Ausführung ertragen können.

Mit diesem Gleichnis fallen wir freilich aus dem Ton, da es staatsrechtliche mit künstlerischen Verhältnissen zusammenwirft, wenigstens für das äußere Auge des richtigen Staatsrechtsbeflissenen. Allein es führt bequem aus der amtlichen Schreibstube, die ich nun fünfzehn Jahre bewohnt habe, in die andere, die literarische, hinüber, in die ich vor kurzem zurückgekehrt bin. Indem ich während jener Zeit die Stelle des Staatsschreibers des Kantons Zürich versah, befolgte ich den bekannten Rat, dem poetischen Dasein eine sogenannte bürgerlichsolide Beschäftigung unterzubreiten. Glücklicherweise war es aber weder eine ganze noch eine halbe Sinekure, so daß keine von beiden Tätigkeiten nebensächlich betrieben werden konnte und das Experiment in Gestalt einer langen Pause vor sich gehen mußte, während welcher die eine Richtung fast ganz eingestellt wurde. Gewiß sind viele vortreffliche Einzelsachen und wirkliche Meisterwerke in den Mußestunden neben lebenslanger anderweitiger Berufserfüllung entstanden; es wird aber immer der Umfang oder die Natur solcher Werke die Mutterschaft bloßer Mußestunden von selbst dartun, und wer Volles und Schweres in der Vielzahl mußestündlich glaubt vollbringen zu können, wird, wenn er lange lebt und weise ist, seine Illusion selber noch zerrinnen sehen.

Bei meiner Wenigkeit hat sich nun ein Mittelweg herausgebildet, wenn auch ohne eigentlichen Vorbedacht, indem statt eines lebenslänglich verteilten prosaischen Berufswesens eine Konzentration auf eine Reihe von Jahren, mit Ausschluß jedes empfindsamen Mußelebens, sich eingestellt hat. Als die alte Republik Zürich, welche unter verschiedenem Regimente von jeher solchen mäzenatischen Anwandlungen unterlegen ist, mir das Amt ihres Schreibers gab, mußte ich mich vom ersten bis zum letzten Augenblicke in den Geschäften tummeln und genoß zehn Jahre lang nicht einmal eines Urlaubes, und ich glaube, es ist mir das gesunder gewesen als ein schläfriges System gemischter Bureau- und Mußestunden. Die Anlehnung an jene solide Bürgerlichkeit, an das Holzhacken Chamissos, hat einmal stattgefunden, ihren Dienst getan und kann nun wieder mit einer andern[836] ungeteilten Existenz vertauscht werden, denn die Hauptsache besteht, nach gewonnener Haltung und Elastizität, nicht sowohl in den sicheren Einkünften, als in der entschlossenen Lebensäußerung.

Trete ich jetzt, vielleicht mit hellerem Auge, als in meiner Jugend geschehen, neuerdings in die literarische Welt hinaus, so sieht es freilich auf den ersten Anblick bänglich aus. Der herrschende Industrialismus und die Wut der Maler und Dichter, sich im römischen Cäsarismus, in der sogenannten Dekadenz zu baden, lassen uns fast der Verse Juvenals gedenken:


Wir nun treiben es doch und ziehn im lockeren Staube

Furchen und werfen den Strand mit fruchtlos ackerndem Pflug um.

Suchtest du auch zu fliehn, dich hält im Netze des eitlen

Übels Gewohnheit fest, unheilbar hält in den Banden

Viele der Schreibsucht Leid und verdorrt mit dem krankenden Herzen.


Allein es ist am Ende nicht so schlimm, als es aussieht, und mehr oder weniger stets so gewesen.

Auch sind bei uns, wie in allen Literaturen, jederzeit drei oder vier böse Kerle vorhanden, die wohl wissen, was recht ist, aber unablässig das Gegenteil davon tun, arme Bursche, die einst ihren Eltern nicht gehorcht und später keine Zeit mehr gefunden haben, sich selbst zu erziehen. Diese quälen sich aber selbst am meisten, und man braucht ja nicht hinzusehen. Dagegen ist gewiß, daß noch jetzt jeder, der etwas Rechtes will und kann, in der Regel auch ein anständiger und wohlwollender Gesell ist, der nach getaner Arbeit sein kluges Pfeifchen in Ruhe zu rauchen versteht und nicht immer von bösen Mücken geplagt ist. Diese Zunft bedarf gar keiner besondern persönlichen Geheimbünde; ihre Mitglieder brauchen sich nicht gegenseitig durch fortwährendes Vergleichen und Zänkeln und Eifersüchteln zu ärgern, und es ist jedem vollkommen gleichgültig, ob sein Nebenmann ein großer Raphael oder ein kleiner Niederländer sei, wenn er nur weiß, daß der Mann seine Farben reinlich und ehrlich mischt.

Quelle:
Gottfried Keller: Autobiographien und Tagebücher. In: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, 3. Band, München 1958. S. 829–849, S. 834-837.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon