5

[22] Willkommen, klare Sommernacht,

Die auf tautrunknen Fluren liegt!

Gegrüßt mir, hehre Sternenpracht,

Die spielend sich im Weltraum wiegt!


Das Urgebirge um mich her

Ist schweigend, wie ein Nachtgebet!

Weit hinter ihm hör ich das Meer

Im Geist, und wie die Brandung geht!


Ich höre einen Flötenton,

Den mir der Wind von Westen bringt,

Indes herauf im Osten schon

Die Ahnung leis vom Tage dringt.
[22]

Ich sinne, wo in weiter Welt

Jetzt sterben mag ein Menschenkind?

Und ob vielleicht den Einzug hält

Ganz still ein lächelnd Heldenkind?


Doch wie nun auf dem Erdental

Ein absolutes Schweigen ruht:

Ich fühle mich so leicht zumal

Und wie die Welt so still und gut.


Der letzte leise Schmerz und Spott

Verschwindet aus des Herzens Grund;

Mir ist, als tät der alte Gott

Mir endlich seinen Namen kund!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 22-23.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte: Eine Auswahl
Gedichte in einem Band
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Gottfried Keller's Traumbüchlein. Aufzeichnungen, Gedichte, Prosa