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[94] Ja, das ist der alte Kirchhof,

Der in blauer Flut sich spiegelt,

Und in seiner dunkeln Erde

Liegt mein Heiligstes versiegelt;

Hier das Beet voll roter Rosen,

Dicht und üppig aufgesprossen:

Drunter liegt die weiße Lilie,

Eng im Blumenschrein verschlossen!


Durch die Rosen, durch die Erde,

Durch die Bretter dringt mein Sehnen;

Dort, wie eben erst gestorben,

Will mein Herz sie schlummernd wähnen!

Schläfst du, schläfst du noch, mein Liebchen?

Zuckt kein Strahl durch deine Leiche,

Weil auf deinem stillen Grabe

Nun dein Buhle irrt, der bleiche?


Fährt kein Stern in deine Augen?

Hebt dein Herz nicht an zu schlagen?

Quellen nicht von deinen Lippen

Frische, süße Liebesklagen?

Zieht kein roter Morgenschimmer

Über deine weißen Wangen,

Weil daran die Lebensgluten

Meiner heißen Blicke hangen?


Eitler Traum! um eine Leiche,

Um den Tod hab ich geworben!

Nun, so sei auch meine Liebe

Fürhin tot und abgestorben![95]

Zitternd reiß ich aus dem Busen

Noch die letzten zarten Blüten,

Gebe sie dem toten Liebchen

Bis zum Jüngsten Tag zu hüten.


Schwarzer Gärtner, Totengräber!

Laß, o laß das Grab verwildern!

Seine wermutbittern Schauer

Soll kein Lenz mehr freundlich mildern!

Binde nicht mehr diese Zweige,

Pflege nicht mehr diese Rosen,

Und mit dem verdorrten Kranze

Mag der kalte Nordwind kosen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 94-96.
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