6

[70] Wohl ist die Lilie wunderbar,

Wenn stolz sie sich im Garten wiegt,

In ihrem Kelche sonnenklar

Langsam der Morgentau versiegt;

Doch mag ich gehn und wandern,

So weit nur Lilien stehn:

Ist keine vor der andern

Mit höherm Schmuck versehn!


Von Glanz und Lust und Klarheit voll

Ist alle diese reiche Welt;

Weiß nicht, wo ich mich wenden soll,

Daß Schönheit nicht sich vor mich stellt.

Nur du, nur du alleine

In all der Zier und Pracht

Gleichst noch dem Mondenscheine

In heitrer Sternennacht!


O lieblichste Vollkommenheit,

Die niemand, als mein Herz, erkennt!

Wer hat dies stille Licht geweiht,

Das nur für mich im Weltall brennt?

Ich fühl es stärker immer,

Daß dieser reine Strahl,

Daß dieser eigne Schimmer

Nicht ist zum zweiten Mal!


Das ist nicht Zufall, nicht Natur,

Was aus den blauen Augen strahlt!

Das ist der Gottheit Sonnenspur,

Die sich in dieser Seele malt!

Ich ahn es licht und lichter,[71]

Mein Herz, nun gib es zu:

Hier ist ein andrer Dichter

Und mächtiger als du!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 70-72.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte: Eine Auswahl
Gedichte in einem Band
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Gottfried Keller's Traumbüchlein. Aufzeichnungen, Gedichte, Prosa