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[141] Rinne sanft, du weiche Welle,

Schöner Flachs, durch meine Hände,

Daß ich dich mit stiller Schnelle

Fein zum goldnen Faden wende!
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Du Begleiter meiner Tage,

Wirst nun bald zum Tuch erhoben,

Dem ich all mein Lust und Klage

Singend, betend eingewoben!


Wie so schwer bist du von Tränen,

Schwer von Sagen und von Träumen,

Schwer von jungfräulichem Sehnen

Und durchblüht von Myrtenbäumen!


Ahnt er wohl, du traute Linne,

Welch geheimnisvolle Dinge,

Einen Schatz urtiefster Minne

Ich mit dir ins Haus ihm bringe?


Kühler Schnee auf seine Wunden

Sollst du werden, mein Gewebe!

Wohl ihm, daß er mich gefunden

Unter dieses Gartens Rebe!


Wie durchdringt mich das Bewußtsein,

Daß so ganz sein Glück ich werde

Und das Kleinod seiner Brust sein

Und sein Himmel auf der Erde!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 141-142.
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