2

[46] Ich liege beschaulich

An klingender Quelle

Und senke vertraulich

Den Blick in die Welle;

Ich such in den Schäumen,

Weiß selbst nicht, wonach?

Verschollenes Träumen

Wird in mir wach.


Da kommt es gefahren

Mit lächelndem Munde[46]

Vorüber im klaren

Kristallenen Grunde

Das alte vertraute,

Das Weltangesicht!

Sein Aug auf mich schaute

Mit äth'rischem Licht.


Wohin ist's geschwommen

Im Wellengewimmel?

Woher ist's gekommen?

Vom blauenden Himmel!

Denn als ich ins Weben

Der Wolken gesehn,

Da sah ich noch eben

Es dort vergehn.


Ich seh es fast immer,

Wenn's windstill und heiter,

Und stets macht sein Schimmer

Die Brust mir dann weiter;

Doch wenn sein Begegnen

Der Seele Bedarf,

Im Stürmen und Regnen

Auch seh ich es scharf.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 46-47.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte