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[81] Es schneit und eist den ganzen Tag,

Der Frost erklirret scharf und blank,

Und wie ich mich gebärden mag –

Es liegt ein Mägdlein ernstlich krank.


Das Rosengärtlein ist verschneit,

Das blühte als ihr Angesicht,

Noch glimmt, wie aus der Ferne weit,

Der Augen mildes Sternenlicht.


Noch ziert den Mund ein blasses Rot

Und immer eines Kusses wert;

Sie läßt's geschehen, weil die Not

Die Menschenkinder beten lehrt.


»Ich lieb auch deinen lieben Mund,

Lieb deine Seele nicht allein –

Im Frühling wollen wir gesund

Und beide wieder fröhlich sein!


Ich lieb auch deiner Füße Paar,

Wenn sie in Gras und Blumen gehn;

In einem Bächlein sommerklar

Will ich sie wieder baden sehn!
[81]

Auf dem besonnten Kieselgrund

Stehn sie wahrhaftig wie ein Turm,

Obgleich der Knöchel zartes Rund

Bedroht ein kleiner Wellensturm!«


Da scheint die Wintersonne bleich

Durchs Fenster in den stillen Raum,

Und auf dem Glase, Zweig an Zweig,

Erglänzt ein Trauerweidenbaum!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 81-82.
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