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[109] Seht da den Vogel mit gerupften Schwingen!

Halb flattert er, halb läuft er hin zum Neste,

Sich einzubaun in weicher Arme Veste,

Wohin kein rauhes Lüftchen mehr soll dringen!


Doch war er frech und mochte Ruhm erringen;

Sein Reisig grünt« und blühte schon aufs beste,

In seinen Schatten lud er stolz die Gäste

Und war so recht ein Thema zum Besingen.


Nur als den Zweig dem freien Feld er raubte,

Aus Luft und Licht, darin er aufgeschossen,

Und sachte mit sich zu salvieren glaubte:


Da war der Traum bald wie ein Schaum zerflossen;

Das Reis verdorrt', das schon so nett belaubte –

Nun zieht er ab, unfertig und verdrossen.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 109-110.
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