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[89] Du, der so lang im Herzen mich geborgen,

Mit allen meinen grämlichen Gebrechen,

Mit meinen hastig immer neuen Schwächen,

Mit allen meinen wunderlichen Sorgen;
[89]

Die Hand vergessend botest jeden Morgen,

Wenn ich die Nacht vorher mit blindem Stechen,

Mit ungerechtem oder bittrem Sprechen

Dir schnitt ins Herz, so treu und unverborgen;


Nicht um zu spähn nach Tadel oder Lobe,

Will ich dir diese Lieder übersenden,

Eh unsre Jugendtage ganz erblassen:


Nein, nur zur letzten schwersten Freundesprobe!

Ich muß mich gegen deinen Glauben wenden –

Wirst du mich darum endlich doch verlassen?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 89-90.
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