Zwölftes Kapitel

Der gefrorne Christ

[766] Auf der Nordseite des Schlosses bezeichnete ein höheres Fenster den Raum, in welchem die Hauskapelle eingebaut war. In diesem Jahrhundert hatte sie schwerlich noch einen Gottesdienst gesehen; doch war kirchlicher Zier- und Hausrat noch an den Wänden vorhanden, das Gewölbe noch bemalt und nur der Fliesenboden längst von der Bestuhlung geräumt. Dafür stand jetzt in der Mitte desselben ein eiserner Ofen, der den Raum mit seinem Körper und seinen Rohren sattsam erwärmte, und auf einer großen Strohmatte eine Staffelei, vor welcher ich saß und ziemlich rührig arbeitete, während ein leichter Schnee auf der Landschaft lag.

Die lange Unterbrechung, die Erlebnisse, der Beschluß der Entsagung hatten ohne Zweifel eine Freiheit des Blickes und eine Neuheit der Dinge in mir bewirkt oder vielmehr aus dem Schlafe gerufen, die mir jetzt zustatten kamen. Schon während des letzten Aufenthaltes in der Residenz hatte ich alte und neue Bilder gewissermaßen mit neuen Augen angesehen; es war mir wie Schuppen von denselben gefallen und fiel so noch fort, da ich jetzt eifrig und kühl, stürmisch, sorglos und vorsichtig zugleich arbeitete, indem bei jedem Zug ich an den folgenden dachte, ohne durch Zögern den Fluß erstarren zu lassen. Die Erscheinung, daß man später etwas kann, und zwar ohne Zwischenübung, was man früher nicht zustande gebracht, sei es durch bloße Ruhe der Geisteskräfte, sei es durch Geschickeswechsel, mag wohl öfter vorkommen, als man annimmt. Hier war es der Fall, natürlich innerhalb der Grenzen, die mir überhaupt gezogen sind.

Ich hatte zwei Bilder zugleich begonnen, welche auf diese Weise ordentlich vorwärtsschritten, von einer nachhaltig erhellten und erwärmten Stimmung getragen. Das eigentliche[766] schaffende Feuer jedoch war die erwachte Neigung, Liebe oder Verliebtheit, oder wie man den Zustand nennen mag, der erst zu nennen, wenn er durch die Zeit zum Austrag gekommen, stets aber eine alltägliche Erscheinung ist, wie alle großen Notwendigkeiten. Ich hatte meinerzeit das Herz auch einen Muskel und ein mechanisches Pumpwerk nennen gelernt; nun unterlag ich dennoch der Täuschung, daß es das Wohnhaus der Bewegungen sei, die von den Liebeshändeln ausgehen; und trotz der üblichen Scherze über seine heraldische Form auf den Lebkuchen, Spielkarten und andern Volkssymbolen behauptete es sein altes Ansehen, als Dorotheas Gestalt mit dem Nimbus ihrer dunklen Geburt, ihrer eigentümlichen Weltanschauung, Schönheit und Bildung den Einzug scheinbar in das Herz und nicht in den Kopf hielt; oder wenigstens verrichtete dieser in seinen offenen Licht- und Schallstübchen einen bloßen Pförtner und Wahrnehmungsdienst, um das Wahrgenommene in die dunkle Purpurmühle der Leidenschaft hinunterzusenden.

Selbst die Vernunft leistete ihr Frondienste und tat ein übriges, ihr gerecht zu werden. Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, durch Dortchens Augen gesehen, ließ mir die Welt bald ebenso in einem stärkern und tiefern Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall war; ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser schönen Welt zusammen zu sein. Ich hörte daher ohne alle Bedenklichkeit vom Sein oder Nichtsein jener Dinge sprechen und fühlte ohne Freude oder Schmerz, ohne Spott und ohne Schwere die anerzogenen Gedanken von Gott und Unsterblichkeit sich in mir lösen und beweglich werden. Die Veranlassung solcher Freiheit war allerdings eine Unfreiheit und für einen Mann nicht gerade rühmlich; im Gefühle hievon suchte ich mich mit Gründen zu schulen und nahm die Zuflucht zu der Bücherei des Grafen. Ich kannte die groben Umrisse der philosophischen Geschichte, aus denen die letzten Fragen für den[767] Unerfahrenen nicht klar hervorgehen. Jetzt griff ich zu den eben in der Verbreitung begriffenen Werken des lebenden Philosophen, der nur diese Fragen in seiner klassisch monotonen, aber leidenschaftlichen Sprache, dem allgemeinen Verständnisse zugänglich, um und um wendete und gleich einem Zaubervogel, der im einsamen Busche sitzt, den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang.

Der Graf gehörte geistig und zum Teil auch persönlich dem Verbande von Männern an, welche den begeisterten Kultus des Philosophen förderten, wenn er auch nicht die Ansicht und die Hoffnung teilte, daß er zunächst die politische Freiheit unfehlbar bringen müsse. Er hatte mich als Gastfreund nicht auf die Sache stoßen wollen; als ich aber jetzt den gewöhnlichen Anfangswiderstand gegen die neuen Einflüsse erhob und die Veränderungen untersuchte, welchen ich in moralischer Hinsicht ausgesetzt sein dürfte, begann ein gewisses Kannegießern über den lieben Gott, welches mich freilich von den Kinderschuhen an begleitet hat.

Über diese Dinge längst beruhigt, ward der Graf etwas ungeduldig und sagte:

»Es ist mir ganz gleichgültig, ob Sie an den lieben Gott glauben oder nicht! Denn ich halte Sie für einen Menschen, bei welchem es nicht darauf ankommt, ob er den Grund seines Daseins und Bewußtseins außer sich oder in sich verlegt, und wenn dem nicht so wäre, wenn ich denken müßte, Sie wären ein anderer mit Gott und ein anderer ohne Gott, so würde ich nicht das Vertrauen zu Ihnen hegen, das ich wirklich empfinde. Dies es auch, was diese Zeiten zu vollbringen und herbeizuführen haben nämlich vollkommene Sicherheit von Recht und Ehre bei jedem Glauben und jeder Anschauung, und zwar nicht nur im Staatsgesetz, sondern auch im persönlichen vertraulichen Verhalten der Menschen zueinander. Es handelt sich nicht um Atheismus und Freigeisterei, um Frivolität, Zweifelsucht und Weltschmerz, und welche Spitznamen man alles erfunden hat für kränkliche[768] Dinge! Es handelt sich um das Recht, ruhig zu bleiben im Gemüt, was auch die Ergebnisse des Nachdenkens und des Forschens sein mögen. Übrigens geht der Mensch in die Schule alle Tage, und keiner vermag mit Sicherheit vorauszusagen, was er am Abend seines Lebens glauben werde. Darum wollen wir die unbedingte Freiheit des Gewissens nach allen Seiten.

Aber dahin muß die Welt gelangen, daß sie mit eben der guten Ruhe, mit welcher sie ein unbekanntes Naturgesetz, einen neuen Stern am Himmel entdeckt, auch die Vorgänge und Ergebnisse des geistigen Lebens hinnimmt und betrachtet, auf alles gefaßt und stets sich selbst gleich, als eine Menschheit, die in der Sonne steht und sagt: Hier steh ich!«

Es dauerte jedoch nicht lang, so bedurfte ich der Zurechtweisungen des freidenkenden Grafen nicht mehr, sondern wandelte selbständig auf demselben Pfade weiter und fand mich in der eintönig erregten Sprache des großen Gottesfreundes zurecht, wenn man ironischer- oder auch ernsthafterweise denjenigen so nennen darf, der sich ein Leben lang von seinem geliebten Gegenstande nicht trennen konnte. Wie alle Neubekehrten wurde ich sogar eifriger als die andern, und die Fackel, mit der ich in meine alten Gedankenwälder hineinleuchtete, brannte um so heißer, als sie an dem Feuer der Liebe angezündet war. Ich kannegießerte nun in entgegengesetztem Sinne, besonders während der länger gewordenen Abende, wo der wunderliche Kaplan, angezogen von dem Streite, sich einfand, um den neuen Abgefallenen in seiner Art zur Rechenschaft zu ziehen.

Dieser Mann war vorzüglich drei Dinge, nämlich ein leidenschaftlicher Esser und Trinker, ein großer religiöser Idealist und ein noch größerer Humorist, und zwar letzteres fast nur in dem Sinne, daß er alle Viertelstunden das Wort Humor gebrauchte und es zum Maßstabe und Kriterium alles dessen machte, was irgendwie vorfiel und gesprochen wurde. Alles, was er selbst tat, redete und fühlte, gab er zunächst für humoristisch aus,[769] und obgleich es dies nur in den minderen Fällen war und mehr in einem maßlosen Klappern und Feuerwerken mit Gegensätzen, Bildern und Gleichnissen bestand, so erzeugte dies Wesen dennoch einen gewissen Humor, besonders wenn wir alle zusammensaßen und er uns mit ungeheurem Wortschwall erklärte, was Humor sei und wie wir dieser Gottesgabe auch nicht eines Senfkörnleins groß besäßen.

Er las eifrigst alle humoristischen Schriften und alle, welche vom Humor handelten, und hatte ein ordentliches System über dies Feuchte, Flüssige, Ätherische, Weltumplätschernde, wie er es nannte, aufgebaut, das ziemlich mit dem Charakter seiner Theologie zusammenhing. Cervantes führte er ebensooft im Munde wie Shakespeare, aber er fand den größten Gefallen an den unzähligen Prügeln, welche Sancho und der Ritter bekommen, an den Einseifungen, Prellereien und derben Sachen aller Art. Sowenig er die Schätze von Weisheit und Edelsinn bemerkte, die dem manchanischen Herren vom Autor in den Mund gelegt waren, in rapidem Wechsel mit den Ausbrüchen der Torheit, sowenig konnte oder wollte er den feinern Spott sehen, besonders wenn er wie auf ihn selbst gemünzt erschien, was dann zu den Versicherungen seines eigenen Humors den ergötzlichsten Gegensatz bildete. So sah er in dem Abenteuer in der Höhle des Montesinos nur eine äußerliche komische Schnurre. Den Humor, der in dem langen Seile liegt, das ganz nutzlos abgerollt wird, indessen der Ritter schon im Anfange die Augen schließt, wie alle, die sich selbst belügen und damit andere terrorisieren, und die Art, wie er sich nachher immer wieder wegen des in der Höhle Gesehenen benimmt, dies alles gewahrte er nicht oder rümpfte unmerklich die Nase dazu.

Sein Idealismus, und er nannte sich bald rühmend, bald entschuldigend einen Idealisten, bestand darin, daß er gegenüber seinen Zuhörern, welche alles Wirkliche und Geschehende, sofern es sein eigenes Wesen ausreichend und gelungen ausdrückt und darstellt, für ideal hielten, eben dieses Wirkliche[770] und Gewordene materiellen und groben Mist oder Staub schalt und dagegen alles Niegesehene, Nichtbegriffene, Namenlose und Unaussprechliche ideal hieß, was ebensogut war, als wenn man einen leeren Raum am Himmel Vorpommern nennen wollte. So nannte er auch jedes dilettantische pfuschende Treiben, aus dem nichts werden konnte, eine ideale Bestrebung, wenn es auch noch so verkehrt und anmaßlich war; die aufopfernde ernste Arbeit in Wissenschaft und Kunst dagegen, die zum Gelingen führte, war ihm ein am Irdischen klebendes Haschen nach Erfolg, nach Ehre und Gut. Den Baumeister, dessen Kirchtürme zusammenfielen, pries er als einen tragisch gestellten Idealisten, denjenigen, dem sie stehenblieben, einen materialistischen Glücksjäger.

Als katholischer Priester war er duldsam und über seine Kirche hinaus; hierüber schwieg er bescheiden und rühmte sich nicht. Den aufgeklärten Deismus aber, welchem er huldigte, vertrat er fanatischer als irgendein Pfaffe seine Satzungen. Er suchte einen rechten Höllenzwang auszuüben mit idealen und humoristischen Redensarten und baute seine Scheiterhaufen aus Antithesen, hinkenden Gleichnissen und gewaltsamen Witzen, auf denen er den Verstand, den guten Willen und sogar das Gewissen der Gegner zu verbrennen trachtete, seiner eigenen Meinung zum angenehmen Brandopfer.

Diese tapfere Lieblingsbeschäftigung, nebst der Gastfreundschaft des Grafen, führte ihn häufig in das Haus, und da er zugleich ein ehrlicher Gesell und redlicher Helfer bei wohltätigen Unternehmungen war, so gereichte er zum Nutzen wie zur bleibenden Heiterkeit des Hauses. Besonders Dorothea wußte ihn mit der leichtesten Anmut in den Irrgärten seines fanatischen Humors herumzuführen, neckisch vor ihm herzuhuschen und durch die Buschwerke seines krausen Witzes zu schlüpfen. Unergründlich war es dabei, ob mehr ein heiteres Wohlwollen oder ein bedenklicher Mutwillen im Spiele lag; denn ebensooft, als sie dem Kaplane Gelegenheit gab zu glänzen,[771] verlockte sie seine Eitelkeit auf das Eis, wo sein Witz das Bein brach.

Das war nun der richtige Mann, an welchem ich meine neuen Waffen zu üben Gelegenheit fand, und ich tat es um so rücksichtsloser, als ich gegen Unarten focht, denen ich selber schon in mehr als einer Hinsicht gefrönt hatte. Nach dem ersten wehmütigen Erstaunen über meinen Abfall holte er mit verdoppelter Kraft aus, um mich niederzustrecken; da ich aber das schonende Maß, dessen er gewohnt war, mit weniger Lebensart als neophytischer Kampflust überschritt, ihm phantastische Ausfälle und humoristische Stiche in gleicher schlechter Münze zurückgab, wurde er verstimmt und ging mehr als einmal der geselligen Erholung verlustig, welche er nach tagelangem Messelesen und Ministrieren gesucht hatte. Hierüber wurde ich meinerseits betroffen; ich verwunderte mich, wie wenig der Mensch sich zu ändern imstande ist, wenn ich an das Erlebnis mit Ferdinand Lys zurückdachte, wo ich mich sogar einer schlimmeren Aufführung schuldig gemacht und mit einem Degen in der Hand auf der entgegengesetzten Seite, derjenigen des Kaplans, gestanden hatte. Ich faßte den Vorsatz, mich zu mäßigen und zu bessern, verfiel aber von neuem in den alten Fehler. Dadurch wurde ich als ein angehender Ruhestörer selbst der Schonung bedürftig, fühlte es und wurde selber betrübt.

Allein es war schon dafür gesorgt, daß dem bedrängten Kaplan eine unerwartete Hilfe kommen sollte. Eines Tages rasselte ein offenes Fuhrwerk, bespannt mit einem schwerfälligen Bauernpferde, vor das Schloß. Auf dem Bock saß ein ländlicher Kutscher mit einer Tabakspfeife im Munde, in dem beckenförmigen Kasten dagegen, wie in der Muschel der Venus, ein seltsamer Mann mit einem großen Schlapphute, ebenfalls eine Pfeife im Munde tragend. Neben ihm lehnte ein mannshoher Kornsack, der aber mit vielen größeren und kleineren, eckigen und runden Gegenständen gefüllt schien und oben mit[772] Mühe zusammengeschnürt war, so daß sich auf dem Haupte nur ein niedriges Faltenkrönlein hatte bilden können. Diesen Sack hielt der Insasse des Fuhrwerkes mit der einen Hand aufrecht, vor allem besorgt, daß er mit Vorsicht abgeladen würde. Als das geschehen, sprang er gleich nach und blieb bei dem Sacke stehen, denselben aufrecht haltend, weil er ihn um keinen Preis auf die etwas feuchte Erde wollte fallen lassen. Das machte ihm den nun folgenden Wortwechsel mit dem Fuhrmann schwierig zu führen, der sich wegen der Bezahlung des Fahrgeldes nicht wollte aufhalten lassen, während der Reisende sowohl die Höhe des geforderten Lohnes bestritt als einen Aufschub verlangte, bis er seine Briefe abgegeben und seine Ankunft auf dem Grafensitze gehörig ausgeführt habe. Mit sprudelndem Munde, immer neben der Pfeife redend, suchte er sich mit dem Fahrknechte zu verständigen, sah sich aber stets in den nötigen Gebärden und im Hervorsuchen der Briefe gehindert, weil der Sack umfallen wollte, wenn er ihn losließ. Endlich kam ein Hausdiener herbei, der nach seinen Angelegenheiten fragte.

»Dies ist mein Gepäcke, guter Freund!« sagte der Mann, »halten Sie's ein wenig, damit ich meine Empfehlungsbriefe an den Herren Grafen finden kann, den ich herbeizurufen bitte!«

Der Diener hielt den Sack, der Reisende holte ein paar Briefe aus einer dicken Brieftasche und gab sie dem Diener, worauf dieser ins Haus ging und jener den Sack wieder selbst hielt. Nach einiger Zeit erschien der Graf mit einem der Briefe in der Hand, um nach dem Ankömmling zu sehen. Dieser streckte ihm, an seiner Sacksäule stehend, die freie Hand entgegen und rief:

»Ich grüße Sie, edler Mann und Genosse! Ist es nicht eine Freude zu leben, mit Hutten zu reden?«

»Habe ich die Ehre, Herrn Peter Gilgus zu sehen, der mir hier von den Freunden empfohlen wird?« antwortete Graf Dietrich[773]

»Der bin ich! Ist es nicht eine Freude zu leben?«

»Gewiß! Aber machen Sie es sich doch etwas bequemer! Wollen Sie Ihr Gepäcke nicht abgeben und ins Haus treten?«

»Ich kann nicht, bevor ich ein Wort mit Ihnen gesprochen!«

Der Graf näherte sich dem Manne, der ihm eine vertrauliche Mitteilung machte, worauf jener dem Fuhrmann bedeutete, daß er werde zufriedengestellt werden und mit seinem Fahrzeuge nur vorerst nach den Wirtschaftsgebäuden gehen und samt dem Pferde etwas zu sich nehmen möge.

Hierauf wurde der Sack wohlbehalten von zwei Leuten in das Haus getragen und der Fremde vom Grafen auf sein Zimmer genommen, wo er weitere Rücksprache mit demselben pflag.

Herr Peter Gilgus war ein im mittlern Deutschland weggelaufener Schullehrer und ein Apostel des Atheismus, der im wörtlichen Sinne ausgezogen war, die Welt zu sehen und zu genießen, nachdem der liebe Gott aus derselben weggeschickt worden. Dies Ereignis hielt er für einen unberechenbaren Glücksfall, und er rief unaufhörlich, wo er hinkam: »Es ist eine Freude zu leben!« als ob die Welt in der Tat von ihrem größten Feinde und Bedrücker soeben befreit worden wäre, seit er die Werke des Philosophen gelesen. Er betrug sich demgemäß, wie wenn es fortwährend Sonntag und der Braten am Spieße wäre, oder wie die Bevölkerung eines kleinen Herzogtums, dessen Tyrann entflohen, oder wie ein Nest voll Mäuse, wenn die Katz aus dem Hause ist.

Als Schulmeister mochte er von der Geistlichkeit freilich arg gedrückt worden sein; allein er freute sich über die Vertreibung Gottes doch mehr als billig. Immer von neuem erstaunte er über die Herrlichkeit des Gedankens, von dem unseligen Begriffe frei und jeder größeren oder kleineren Abhängigkeit von demselben ledig zu sein. Immer wieder ballte er die Faust gegen die ganze lange Vergangenheit voll anthropomorphischer Götter; aufs neue bestieg er jeden kleinen Hügel,[774] reckte die Hand aus und pries die Schönheit der grünen Welt, jubelte über die wolkenlose tiefe Bläue des entgötterten Himmels und trank bäuchlings liegend aus Quellen und Bächen, welche noch nie so reines und frisches Wasser geliefert hätten wie jetzt. Das hinderte ihn jedoch nicht, sobald eine anhaltende Kälte oder ein langes Regenwetter eintrat, sehr ungehalten zu werden und einen persönlichen Groll mit altherkömmlichen Fluchworten zu äußern, wie man sie nur gegen persönlich existierende Urheber von widerwärtigen Wirkungen braucht.

Nach seinem Auszuge hatte er zuerst das Haupt der Schule, den Philosophen, aufgesucht, acht Tage lang verehrt und ihm zur Weiterreise die geringe Barschaft abgeborgt, welche der in freiwilliger Armut und Bedürfnislosigkeit lebende Weltweise gerade besaß. Derselbe gab ihm ein paar Briefe an wohlhabendere Verehrer mit, diese sandten ihn wieder an dern Freunden zu, und so zog er seit einem Jahre von Stadt zu Stadt, von einem Landgut zum andern, lebte herrlich und in Freuden und lobte die angebrochene neue Ära. Jetzt war er endlich auch zum Grafen Dietrich gekommen, der schon von ihm wissen mochte. Als er mit dem neuen Gaste zu Tisch kam, war er schon ein wenig ermüdet von dessen lauten Gesprächen und Ausrufungen; der Gast aber, indem er den Löffel in die gute Suppe tauchte, rief und sprudelte über dicke Lippen hinaus: »Es ist eine Freude zu leben!«

In mir witterte er augenblicklich einen Schützling und Mitgast des Hauses, machte sich nach dem Essen an mich und zwang mich, ihn auf das ihm bestimmte Zimmer zu begleiten; unter tausend Fragen begann er sich einzurichten und seinen Sack auszupacken, der ihm als Reisekoffer diente. Neben einer Anzahl verschiedener Kleidungsstücke, von denen keines zum andern recht paßte, kamen die wunderlichsten Habseligkeiten zum Vorschein, und auf jedes Stück legte er einen Affektionswert. Jeden Band in ein besonderes Tüchlein gewickelt,[775] förderte er die in rotes Leder gebundenen Werke des Meisters zutage und stellte sie feierlich auf den Schreibtisch, der im Zimmer war. Dann zog er ein dickes Stück von ungebleichtem Zwillich, viele Ellen, heraus, wovon er sich im Sommer eine deutsche Turnerkleidung dachte anfertigen zu lassen. Hierauf kamen andere Bücher; hierauf rollten einige Metzen schöne Borsdorfer Apfel hervor, von einer schönen Gutsfrau geschenkt, wie er sagte; sodann folgte ein Stück Pökelfleisch, in Papier gewickelt; hierauf eine blaue zusammengelegte Steppdecke, zwischen welcher ein Bund Strickgarn lag zu neuen Strümpfen. Beim Anblick aller dieser Dinge mußte man ihm lassen, daß er die Vorsehung Gottes leidlich zu ersetzen und an alles zu denken verstehe, dessen er etwa bedürftig werden könnte. Nachdem er noch einiges aus der Tiefe des Sackes hervorgeholt, unter anderm eine kleine Schwarzwälderuhr, kroch er mit dem Kopfe hinein und zog aus dem untersten Grunde einen zusammengerollten rotblumigen Hausrock hervor. Denselben entfaltend, enthüllte er eine mäßige Schachtel, in welcher das Modell eines Auges von der Größe eines Kindskopfes gebettet lag.

Gilgus öffnete die Schachtel und nahm das Auge sorgfältig heraus, um zu sehen, ob es nicht Schaden gelitten. Es war von Wachs und Glas angefertigt und konnte zerlegt werden, um zu Unterrichtszwecken den Bau des menschlichen Auges vorzuweisen. Bei seinem Auszug hatte er das Auge aus der kleinen Naturaliensammlung seiner Schule mitlaufen lassen, und es liefen deshalb überall kleine amtliche Verfolgungen hinter ihm drein, sooft sein Aufenthalt ausgemittelt wurde; allein er gab es nicht wieder her.

Jetzt blies er den Staub davon, setzte es feierlich auf den Schreibtisch und rief: »Das ist das wahre Auge Gottes!«

Dieses Auge Gottes hatte natürlich nur die allergröbste Einrichtung, und Gilgussens Kenntnis ging über dieselbe nicht hinaus; dennoch mußte sie ihm dazu dienen, seine Freudenbotschaft mit dem Mantel der Naturwissenschaften zu schmücken,[776] und er führte das Auge gleichsam als Wahrzeichen mit sich für jene Erscheinung im großen, wenn die gedachten Wissenschaften beim Beginn einer neuen Reihe von Entdeckungen dem Unendlichen jedesmal zuschreien: Holla! Wir wissen jetzt, wie's gemacht wird!

Außerdem diente ihm das Auge noch als Geheimarchiv und Schatzkammer. Er öffnete den Apfel und leerte den hohlen Innenraum, dessen Inhalt vom Fahren durcheinandergerüttelt worden. Aus einer großen Flocke Baumwolle wickelte er eine goldene Busennadel, ein silbernes Uhrkettchen, ein paar Fingerringe und zeigte mir diese Schätze mit Wohlgefallen. Auf ein Bündelchen Rechnungen, ein Punschrezept, ein Bündelchen Liebesbriefe, die er von den Stubenmädchen seiner Gastfreunde erhalten, wies er mehr andeutend hin, wogegen er ein Lotterie los mit ernster Miene entfaltete, wie wenn es eine Staatsobligation wäre, und es standen allerdings mehrere Hunderttausende in großen und kleinen Posten darauf gedruckt; eine kleine, in Papier eingeschlagene Barschaft bezeichnete er als Reservefonds, welchen er unter keinen Umständen angreife und deshalb hier aufbewahre. Ein vertrocknetes Blumensträußchen ergänzte die Sammlung und knüpfte versöhnend an das menschlich Liebenswürdige an.

Alles das war in dem Auge, und er legte das Gefüllsel nun in die leere Schachtel und verschloß diese in einer Schublade; denn er dachte das anatomische Modell in den bevorstehenden lehrreichen Gesprächen zum Vorschein zu bringen.

Gleich am ersten Abend, als der Kaplan zur Gesellschaft kam, nahm er diesen zum Zielpunkt seines apostolischen Eifers, und es entstand ein gewaltiger Lärm, bis der Geistliche die Karikatur in dem Ankömmling erkannte, plötzlich mit vergnügtem Augenblinzeln seine Fechtart veränderte und dem lärmenden, mit blasphemischen Kühnheiten um sich werfenden Peter Gilgus zu schmeicheln begann. Er schätze sich glücklich, sagte er, eine so ausgesprochene und in ihrer Art vollkommene Erscheinung[777] begrüßen und studieren zu können; alles absolut Entgegengesetzte müsse sich stärker anziehen als das Halbe und sich schließlich in einem höhern Elemente vereinigen. Ein leidenschaftlicher Liebhaber Gottes und ein leidenschaftlicher Leugner Gottes zögen im Grunde an demselben Wagen, von dem der eine sowenig los kommen könne als der andere, und so biete er ihm als treuer Gefährte seine Freundschaft an. Eine so fleißige und beharrliche Gottesleugnerei sei eigentlich nur eine andere Art von versteckter Gottesfurcht, wie es in den ersten Zeiten Heilige gegeben habe, welche den Schein großer Lasterhaftigkeit zur Schau trugen, um in der Verachtung um so ungestörter der göttlichen Inbrunst sich hinzugeben.

Der verdutzte Gilgus wußte nicht, wie ihm geschah, und suchte sich mit sprudelnder Ungebärdigkeit zu helfen; doch der fröhliche Kaplan umwickelte ihn so dicht mit hundert zärtlichen Späßchen, tröstete ihn, der Herrgott habe schon längst ein Auge auf ihn und es werde noch alles gut werden, daß er sich doch gewissermaßen geschmeichelt fühlte und sich auf den nächsten Tag zu einem guten Pfarrfrühstück bei dem Kaplan einladen ließ. Dort lieferten sie sich zuerst wieder eine Wortschlacht; dann zechten sie und schlossen Freundschaft, zogen miteinander über Feld und in den Wirtshäusern herum, wo der Kaplan immer neue Späße mit seinem Freunde anstellte; denn er blieb immer bei Sinnen und boshaft, während Gilgus den Verstand verlor, sobald er angetrunken war, und über die Größe seines Schicksals, über die Feierlichkeit der Zeit, wo es eine Freude zu leben sei, jämmerlich zu weinen begann. Wenn der Kaplan ihn in solcher Verfassung abends oder mittags ins Schloß bringen konnte, so erreichte sein Vergnügen den höchsten Gipfel. Der Graf lächelte bald heiter, bald verdrießlich, Dorothea dagegen lachte voll neugieriger Lustbarkeit, da sie dergleichen noch nie gesehen, besonders wenn Gilgus vor ihr auf die Knie fiel und weinend den Saum ihres Gewandes küßte; denn er hatte die Gärtnerstochter, mit der er zuerst schöngetan,[778] sogleich stehenlassen, als er vernahm, daß Dortchen keine Gräfin und eine starkgeistige, freigesinnte Person sei, und offenbar hielt er sie vorläufig für dazu bestimmt, die Freude am großen Weltaugenblick und am Leben mit ihm zu teilen.

War er dann nach manchem Auftritte derart wieder nüchtern geworden, so verfiel er in tiefsinnige Trauer, und um die Scharte auszuwetzen, beging er allerhand Kraftstücke. Trotz der kühlen Jahreszeit stürzte er sich badend in Teiche und Mühlbäche, so daß man in der Nähe oder Ferne unvermutet seine nackte Gestalt auf- und untertauchen sah. Mit blauem Gesicht und nassen Haaren stellte er sich dann als neu- und wiedergeboren vor, und der Kaplan sowohl als Dortchen und selbst das mutwillige Röschen fanden ihre tägliche Belustigung an seinem Treiben. Der Kaplan wußte bereits, daß die Bauern davon sprachen, den heidnischen Wassermann einmal aufzufischen und mit Haberstroh trockenzubürsten, und auch hierauf freute er sich im voraus.

Ich aber wurde durch den ganzen Vorgang nicht nur veranlaßt, die eigene Streitlust zu mäßigen, ja sogar mich stillzuhalten, sondern ich fühlte mich beschämt, neben dem sonderbaren Gesellen als ein kaum minder abenteuerlicher Gast dazustehen. Vollends die Art, wie jener sein Auge auf die Schönheit des Hauses geworfen, erinnerte mich daran, daß ich selbst ja das gleiche getan und noch tue, wenn ich auch noch nichts verraten oder zu verraten bis zur Stunde willens gewesen sei. Und das holde Gelächter, welches Dorothea in allen Züchten öfter hören ließ, verdiente ich ja selbst schon in meinem innersten Herzen. Wenn ich aufrichtig gegen mich sein wollte, so mußte ich gestehen, ich sei allein um Dorotheas willen noch dageblieben, nur besaß ich nicht den Mut, es merken zu lassen oder etwas zu hoffen. Ich war also womöglich noch närrischer als der Peter Gilgus.

Ich geriet durch all diese widersprechenden Empfindungen und Gedanken in eine Art von Erstarrung, in welcher ich mich[779] auf meine Arbeit und das stille Studium der philosophischen Bücher zurückzog, ohne an den Disputationen weiter teilzunehmen. Die Verliebtheit dauerte dabei fort, aber wie das Blühen der Pflanzen, das in eingetretener Frühlingskühle eine Weile unentschieden bei halbgeöffneten Kelchen anhält. Und gleichmäßig verharrte ich in der Verachtung einer Nebenbuhlerschaft, als welche ich das Verhalten des Gilgus hinsichtlich der neuen Weltanschauung sowohl als dem Weibe gegenüber betrachtete, was freilich weder zeitgemäß noch sehr menschlich war.

Eines Vormittags kam er aufgeregt und geputzt zu mir gestürzt, als ich ziemlich gesammelt und dennoch herb wie eine alte Jungfer an meiner Arbeit saß. Er trug auf dem Leibe einen braunen Frack mit vergoldeten Knöpfen, auf dem Kopf eine hellfarbige Reisemütze, obgleich es Winter war. Die Angelegenheit mit Dorothea, rief er, müsse sich entscheiden; eine Verbindung eines Mannes wie er mit einer Person wie Dorothea wäre zu typisch, als daß sie unterbleiben dürfte; sie sei geradezu eine philosophiegeschichtliche Pflicht, denn die Erlösung der Welt von der Gottesidee müsse sich erst recht vollziehen durch die Vermählung freier Geschlechtsrepräsentanten, und so weiter. Ich war von der schlechten Gesellschaft in meiner Neigung so beschämt und vergrämt, daß ich über die Narrheit nicht einmal zu lachen imstande war. Überhaupt belustigte mich die Sache keineswegs, indem sie selbst einen leichten Schatten auf das unbefangene Dortchen zu werfen schien.

Ich fragte ihn daher unwirsch, ob er in seinem Fracke schon auf dem Weg sei, den Heiratsantrag zu machen?

»Nein«, sagte er, »heute noch nicht! Ich will mich erst einige Tage nur etwas sorgfältiger tragen, wie es sich auf Freiersfüßen geziemt. Steht mir dieser Frack nicht gut? Ich habe ihn von einem atheistischen Bankier geschenkt bekommen, einem großen Gönner unsers Bundes, der freilich des Sonntags noch in die Kirche geht; denn er hat Rücksichten zu nehmen. Oh,[780] wenn mein armes Mütterchen das Glück noch erlebt hätte, das ich haben werde!«

»Ihr Mütterchen? Ist es tot?«

»Schon seit zwei Jahren! Sie hat die Befreiung des Menschengeschlechtes nicht mehr gesehen! Die trockenen Blumen, die ich im Auge Gottes aufbewahre, hat sie mir noch an meinem letzten Geburtstage geschenkt, den sie erlebte! Sie hat dieselben um einen Kreuzer auf dem Markte eingehandelt!«

Ein neuer Stich ging mir ins Herz; auch auf eine liebende Mutter behauptete der Narr Anspruch zu machen, und am Ende war er noch ein besserer Sohn als ich, der ich dasaß und die meinige so gut als vergaß, obschon ich wußte, daß sie meiner harrte. So ist unser Leben aus Wirrsal gewebt, daß wir dem Nächsten kaum einen Tadel zuwenden, den wir nicht, noch eh er ihn vernommen, auf uns selbst beziehen können.

Einige Minuten nachdem Gilgus fortgestürmt war, trat Dorothea mit einem Körbchen voll schöner Trauben und Birnen herein.

»Sie sind jetzt so fleißig und zurückgezogen«, sagte sie, »daß man Ihnen die kleinen Erquicklichkeiten nachtragen muß. Essen Sie von diesen Früchten, sonst werden Sie mir zu trocken! Dafür sollen Sie uns einen guten Rat geben! Malen Sie jedoch weiter, ich sehe Ihnen gerne zu!«

Sie nahm einen Stuhl und setzte sich zu mir.

»Papa schreibt Briefe«, fuhr sie fort, »mit denen er Herrn Gilgus fortschicken will; denn er mag ihn nicht mehr dahaben. Gilgus hat heute früh die Ackerleute, die auf dem Felde pflügen, angepredigt wie Jonas die Leute zu Ninive, sie sollten Buße tun und von ihrem heidnischen Gottesglauben ablassen. Das kann so nicht weitergehen. Papa will ihn heute noch wegschicken, in ziemliche Entfernung, und mit wohlmeinenden Uriasbriefen dahin wirken, daß er weiterhin versorgt und an eine vernünftige Beschäftigung gebunden wird.«

»Und was kann ich denn dazu raten?« frug ich.[781]

»Nicht sowohl raten als helfen! Sie sollen ihm, sofern er sich sträubt, zureden und die Reise als etwas Notwendiges und Vergnügliches darstellen. Dann stehen ein paar Koffer bereit, welche den Inhalt seines schrecklichen Sackes wohl aufnehmen werden. Da Sie ihm in seinem letzten Stündlein beistehen werden, so müssen Sie ihn überzeugen, daß der Sack un schicklich und verdächtig sei, und wie zufällig die Koffer herbeischaffen. Es könnte sich nämlich ereignen, daß er störrisch wäre und sie nicht wollte, und doch mag der Vater ihn nicht mit dem Kornsacke aus seinem Hause abreisen sehen.«

Ich befürchtete zwar nicht, daß Gilgus die Koffer zurückweise, versprach aber, mein Bestes zu tun. Sie aber sagte: »Nun schau ich noch ein wenig zu, wenn es erlaubt ist!« schlug die Arme ineinander und saß eine Viertelstunde neben mir, ohne daß sie oder ich etwas dazu sprach.

Als ich endlich einen mißlungenen Stein, der im Vordergrunde meines Bildes lag, mit der Spachtel wegräumte, sagte sie »Hopsa! Weg damit!« Dann erhob sie sich, dankte mir für geneigte Audienz und zog sich zurück, indem sie mir zugleich empfahl, mich vor Tisch sehen zu lassen, um zu erfahren, wie es gehe in der bewußten Sache.

Es ging auch ohne Schwierigkeit alles vonstatten, wie man wünschte; Gilgus fuhr ganz still und weichmütig mit wohlbepacktem Gefährte von hinnen, nach der nächsten Posthalterei, um von dort am frühen Morgen weiterzureisen. Als der Kaplan abends zum Tee erschien, fand er es so still und friedlich, wie wenn eine Mühle abgestanden wäre. Er hatte in der letzten Zeit zuweilen einen der älteren deutschen Mystiker mitgebracht, in der Absicht, das grundtiefe und kühne Wesen solcher Geister dem neuesten Geiste gegenüberzustellen, der ebenso tiefgehend und kühn war selbst in der verzerrten Darstellung durch Gilgus, und da es ihm hauptsächlich um das Phantasienährende und Parabolische zu tun war, dem er nachjagte, so gab es manche Ausbeute bald zu seinen Gunsten, bald zugunsten der andern.[782] Für heute hatte er des Angelus Silesius Cherubinischen Wandersmann aufgegriffen und bedauerte, daß Gilgus nicht mehr da war, da er denselben durch den Vortrag der wunderlichen Reime zugleich zu reizen und zu bannen, uns aber in spaßhafte Verlegenheit zu setzen hoffte.

Wir baten ihn, dennoch vorzulesen, und die kleine Gesellschaft empfand die größte Freude über den vehementen Gottesschauer, seine lebendige Sprache und poetische Glut. Das wollte ihm aber auch nicht recht passen; er begann immer eifriger und nachdrücklicher zu lesen, und mit jeder Seite, die er umschlug, erhöhte sich die Teilnahme an der munteren Geisteserscheinung, bis er das Büchlein halb ärgerlich und ermüdet weglegte.

Nun nahm es der Graf in die Hand, blätterte darin und sagte dann:

»Es ist ein recht wesentliches und charaktervolles Büchlein! Wie richtig und trefflich fängt es gleich an mit dem Reimpaar:


›Rein wie das feinste Gold, steif wie ein Felsenstein,

Ganz lauter wie Kristall soll dein Gemüte sein.‹


Kann man treffender die Grundlage aller solcher Übungen und Denkarten, seien sie bejahend oder verneinend, und den Wert bezeichnen, den man von vornherein hinzubringen muß, wenn die ganze Sache erheblich sein soll? Wenn wir uns aber weiter umsehen, so finden wir mit Vergnügen, wie die Extreme sich berühren und im Umwenden eines in das andere umschlagen kann. Glaubt man nicht, unsern Ludwig Feuerbach zu hören, wenn wir die Verse lesen:


›Ich bin so groß als Gott, Er ist als ich so klein,

Er kann nicht über mich, ich unter Ihm nicht sein‹ –?


Ferner:


›Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben,

Werd ich zunicht, Er muß vor Not den Geist aufgeben.‹
[783]

Auch dies:


›Daß Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen,

Hat Er sowohl von mir als ich von Ihm empfangen.‹


Oder:


›Ich bin so reich als Gott, es kann kein Stäublein sein,

Das ich (Mensch, glaube mir) mit Ihm nicht hab gemein.‹


Und nun gar:


›Was man von Gott gesagt, das g'nüget mir noch nicht;

Die Über-Gottheit ist mein Leben und mein Licht.‹


› – Wo soll ich dann nun hin?

Ich muß noch über Gott in eine Wüsten ziehn.‹


Und wie einfach wahr findet man das Wesen der Zeit besungen in diesem Sinngedichtchen:


›Man muß sich überschwenken

Mensch! wo du deinen Geist schwingst über Ort und Zeit,

So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit.‹


Dann:


›Der Mensch, ist Ewigkeit

Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse

Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.‹


Und:


›Die Zeit ist Ewigkeit

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,

So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.‹


Alles dies macht beinahe vollständig den Eindruck, als ob der gute Angelus nur heute zu leben brauchte und er nur einiger veränderter äußerer Schicksale bedürfte, und der kräftige Gottesschauer wäre ein ebenso kräftiger und schwungvoller Philosoph unserer Zeit geworden!«[784]

»Das wird mir denn doch zu bunt«, rief der Kaplan; »aber Sie vergessen nur, daß es zu Schefflers Zeiten doch auch schon Denker, Philosophen und besonders auch Reformatoren gegeben hat und daß eine kleinste in ihm vorhandene Ader von Verneinung vollkommen Gelegenheit gehabt hätte, sich auszubilden!«

»Sie haben recht!« erwiderte ich, »aber nicht ganz in Ihrem Sinne. Was ihn abgehalten hätte und wahrscheinlich noch heute abhalten würde, ist der Gran von Frivolität und Geistreichigkeit, mit welcher sein glühender Mystizismus versetzt ist; diese kleinen Elementchen würden ihn bei aller Energie des Gedankens auch jetzt noch im mystagogischen Lager festhalten!«

»Frivolität!« rief der Kaplan, »immer besser! Was wollen Sie damit sagen?«

»Auf dem Titel«, versetzte ich, »benennt der fromme Dichter sein Buch mit dem Zusatz: Geistreiche Sinn- und Schlußreime. Allerdings hat das Wort geistreich im damaligen Sprachgebrauch nicht ganz die jetzige Bedeutung; wenn wir aber das Büchlein aufmerksamer durchgehen, so finden wir, daß es in der Tat auch im heutigen Sinne etwas allzu geistreich und zuwenig einfach ist, so daß jene Bezeichnung jetzt wie eine ironische Voraussage erscheint. Dann sehen Sie aber auch die Widmung an, die Dedikation, worin der Mann seine Verse dem lieben Gott dediziert, indem er ganz die Form nachahmt, selbst in der Anordnung des Drucksatzes, in welcher man damals großen Herren ein Buch zuzueignen pflegte, bis zur Unterschrift Sein allezeit sterbender Johannes Angelus.

Betrachten Sie den bitterlich ernsten Gottesmann, den heiligen Augustinus, und gestehen Sie aufrichtig: trauen Sie ihm zu, daß er ein Buch, worin er sein religiöses Herzblut ergossen, mit solch einer witzelnden, affektierten Dedikation versehen hätte? Glauben Sie überhaupt, daß es demselben möglich gewesen wäre, ein so kokett launiges Büchlein zu schreiben, wie[785] dies eines ist? Er hatte Geist so gut als einer, aber wie streng hält er ihn in der Zucht, wo er es mit Gott zu tun hat! Lesen Sie seine Bekenntnisse, wie rührend und erbaulich ist es, wenn man sieht, wie ängstlich er alle sinnliche und geistreiche Bilderpracht, alle Selbsttäuschung oder Täuschung Gottes durch das sinnliche Wort flieht und meidet. Wie er vielmehr jedes seiner strikten und schlichten Worte unmittelbar an Gott selbst richtet und unter dessen Augen schreibt, damit ja kein ungehöriger Schmuck, keine Illusion, keine Art von Schöntun mit Unreinem in seine Geständnisse hineinkomme!

Ohne mich zu solchen Propheten und Kirchenvätern zählen zu wollen, kann ich doch diesen ganzen und ernstgemeinten Gott mitfühlen, und erst jetzt, wo ich ihn nicht mehr habe, erkenne ich die willkürliche und humoristische Manier meiner lugend, in welcher ich mit meiner vermeintlichen Religiosität die göttlichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich müßte mich nachträglich selber der Frivolität zeihen, wenn ich nicht annehmen könnte, daß jene verblümte und spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völligen Geistesfreiheit gewesen sei, die ich mir endlich erworben habe.«

»Haha!« lachte der Priester jetzt aus vollem Halse, »da haben wir's wieder! Geistesfreiheit, Frivolität! Da zappelt der Fisch wieder an der langen Schnur und hält sich für einen Luftspringer! Bald wird er nach Luft schnappen! Den Teufel spürt das Völkchen nie! möchte man fast ausrufen, wenn's nicht den lieben Herrgott anginge, verzeih mir Gott die Sünde!«

Ärgerlich, daß ich dem humoristischen Fliegenfänger nun doch wieder ins Garn gefallen, entzog ich mich der Unterhaltung und trat schweigend an ein Fenster, wo ich die Sterne des Großen Wagens ihren stillen Weg fahren sah. Auf einmal rief Dorothea, welche inzwischen das Buch in die Hand genommen hatte:

»Beim Himmel, da steht das artigste Frühlingsliedchen, das ich je gesellen! Hört:
[786]

›Blüh auf, gefrorner Christ!

Der Mai ist vor der Tür,

Du bleibest ewig tot,

Blühst du nicht jetzt und hier!‹«


Sie eilte ans Klavier, spielte und sang diese Worte in einem altertümlichen Choralsatze von sehnsüchtig lockendem Tone, doch trotz der kirchlichen Form mit einem verliebt zitternden, weltlichen Ausdruck ihrer Stimme.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 766-787.
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