19. Kapitel
Worin die wahre Geduld besteht, und daß man Unrecht geduldig leiden muß.

[113] 1. Der Herr: Was redest du da, mein Sohn? Höre auf, dich zu beklagen! Fasse doch einmal zu Herzen, was ich und andere Heilige gelitten haben! Du hast ja noch nicht bis zum Blutvergießen widerstanden. Alles, was du zu leiden hast, ist im Grunde nichts oder sehr wenig, im Vergleich mit denen,[113] die soviel ausgestanden haben, die sich durch so schwere Versuchungen, so schwere Plagen, so mannigfaltige Prüfungen durchkämpfen mußten. Du sollst also die größeren Leiden anderer zu Gemüt fassen, damit du deine geringen Leiden leichter tragen lernst. Und wenn dir deine Leiden nicht so klein und unbedeutend vorkommen, so sieh zu, ob eben dies nicht eine Frucht deiner Ungeduld ist. Doch, dein Leiden sei klein oder groß, du sollst alles geduldig tragen lernen.

2. Je besser du dich zum Leiden anschickst, desto vernünftiger handelst, desto angenehmer bist du in meinen Augen, desto würdiger der himmlischen Belohnung. Du wirst auch deine Leiden um so leichter tragen, je mehr du dich schon vorgeübt und darauf gefaßt gemacht hast. Du mußt dann aber nicht etwa sagen: »Von solch einem Menschen kann ich ein Unrecht unmöglich ertragen, und ich darf derlei nicht erdulden. Denn er hat mir einen so großen Schaden getan, hat mir solche Dinge vorgeworfen, an die mein Herz nie gedacht hat. Wenn mir ein anderer Mensch ein Unrecht zugefügt hätte, da wollte ich's gern tragen und mich um Kraft Umsehen, es geduldig zu ertragen.« Eine solche Gesinnung ist Torheit. Denn, wer so gesinnt ist, der weiß nicht, worin das Wesen der Geduld besteht, blickt auch nicht zu dem auf, der eigentlich die Geduld krönen wird, sondern sieht nur immer auf die Menschen, die wehtun, und auf das Unrecht, das sie ihm angetan haben.

3. Wer nur soviel leiden will, als er nach seinem Gutdünken oder nach seiner Neigung leiden zu können oder zu müssen glaubt, der hat nicht die wahre Geduld. Wer die wahre Geduld besitzt, der sieht nicht darauf, ob der, von welchem er etwas zu leiden hat, über ihm oder unter ihm oder ob er seinesgleichen ist; sieht nicht darauf, ob er von einem guten, heiligen Manne oder von einem nichtswerten, lasterhaften Menschen in der Geduldschule geübt wird; sondern alles Widrige, das ihm von diesem oder jenem Geschöpfe begegnen mag, alles nimmt er gleichmütig und von der Hand Gottes dankbar an und hält dieses Leiden für einen großen[114] Gewinn. Denn das geringste Leiden, das ein Mensch um seines Gottes willen duldet, wird ein großer Edelstein in der Krone des Dulders.

4. Rüste dich also zum Streite, wenn du den Sieg haben willst. Denn ohne Streit kannst du die Krone der Geduld nicht erlangen. Wenn du nicht leiden willst, so sprichst du zur Krone: Ich will dich nicht. Wenn du aber die Krone willst, so streite wie ein Mann und leide in Geduld. Ohne Arbeit keine Ruhe für dich, ohne Streit kein Sieg.

5. Der Mensch: Lieber Herr! laß mir durch deine Gnade möglich werden, was mir nach meiner Natur unmöglich zu sein scheint. Du weißt es am besten, daß ich so wenig Leiden ertragen kann, daß mich die kleinste Widerwärtigkeit zu Boden wirft. Oh, laß mir jede Übung der Geduld um deines Namens willen nur recht wünschenswert und lieb werden! Denn um deinetwillen leiden und geplagt werden, das macht gut und selig.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 113-115.
Lizenz:
Kategorien: