20. Kapitel
Von dem Bekenntnis der eigenen Schwäche und von den Trübsalen dieses Lebens.

[115] 1. Der Mensch: Ich will wider mich selbst ein Zeugnis ablegen, will mein Unrecht gestehen, will meine Schwachheit vor dir, o Gott, bekennen. Oft ist es eine Kleinigkeit, die mich mutlos und traurig macht. Jetzt fasse ich den Entschluß, tapfer zu handeln, aber sieh! gleich darauf tritt eine geringe Versuchung ein, und schon bin ich in großer Bedrängnis. Oft ist es ein geringfügiges Ding, woraus eine heftige Anfechtung für mich entsteht. Und wenn ich mich ein wenig sicher glaube, so rauscht, ehe ich mich's versehe, ein leichter Windstoß daher und wirft mich samt all meiner Sicherheit zu Boden.

2. So sieh denn, o Herr, auf meine Niedrigkeit und Gebrechlichkeit, die dir noch besser als mir selbst bekannt ist,[115] mit Erbarmung herab! Erbarme dich meiner, und reiß mich heraus aus dem Schlamme, daß ich nicht noch tiefer hineinsinke und vollends darin versinke! Ach! das ist es eben, was mich so oft vor deinem Auge zuschanden macht und tief verwundet, daß ich so hinfällig bin, so ohnmächtig, den bösen Neigungen Widerstand zu leisten. Und wenn ich auch dem Reize zum Bösen die volle Zustimmung meines Willens versage, so ist es für mich doch lästig und schwierig, daß der Reiz zum Bösen mich immer und immer verfolgt und in die Enge treibt. Es ist doch verdrießlich, täglich in lauter Zank und Streit leben zu müssen. Auch dadurch offenbart sich mir meine Schwachheit, daß die schändlichen Vorstellungen von verbotener Lust viel leichter in meine Einbildungskraft eindringen, als sich wieder aus ihr vertreiben lassen.

3. Gott Israels, du starker, du heiliger Freund aller Seelen, die mit treuer Liebe dir anhängen! Ach, daß du herunter sähest auf die Mühen und Kämpfe deines Knechtes, und ihm in allem, was er unternimmt, zur Seite stündest! Stärke mich mit himmlischer Kraft, damit der alte Mensch, das Fleisch, das der Geist noch nicht vollkommen unter das Joch gebracht hat, nicht wieder die Oberherrschaft erlangt, das Fleisch, gegen das mein Kampf nicht früher aufhören darf, als mein Aufenthalt in diesem Lande des Jammers währt. Was ist doch das für ein Leben, wo es nie an Trübsal und Elend fehlt, wo überall Schlingen und Feinde genug auf unseren Untergang lauern? Denn, wenn eine Trübsal oder Versuchung fortgeht, zieht schon wieder eine andere auf den Kampfplatz, und oft, indem wir noch mit einer im Streite liegen, fallen uns schon mehrere andere in den Rücken, ganz unerwartet.

4. Und, wie ist es möglich, ein Leben lieb zu haben, das uns mit soviel Bitterkeit, Trübsal und Jammer überschüttet? Wie kann man auch ein Leben, das so mancherlei Seuchen und Tod und wieder Tod erzeugt, ein Leben nennen? Und doch verlieben sich so viele Menschen in dieses Leben und suchen ihre ganze Freude darin. Zwar fehlt es nicht an[116] Menschen, die die Welt tapfer schelten, daß sie voll Lug und Trug stecke. Allein, ihr Herz bleibt doch an der lug- und trugvollen Welt hangen, weil es die herrschenden Begierden des Fleisches so fest daran klammern. Es treibt sie nämlich etwas anderes zur Weltliebe, und wieder etwas anderes zur Weltverachtung. Zur Weltliebe treiben sie die Fleischeslust, die Augenlust und die Hoffart des Lebens. Der Jammer aber und die Strafen, womit die Weltliebe ihre Freunde nach dem Gesetze der Gerechtigkeit züchtigt, treiben zum Haß gegen die Welt und zum Überdruß an ihr.

5. Eine böse Lust aber söhnt leider ein Herz, das im Grunde doch noch an der Welt hangt, wieder mit der Welt aus, und es findet ein Vergnügen darin, sein Ruhebette wieder auf Dornen zu haben, weil es die Süßigkeit, die Gott seinen Freunden gewährt, noch nie gekostet und die innere Schönheit der Tugend noch nie erblickt hat.

Die aber die vergänglichen Dinge vollkommen verschmähen und in heiliger Zucht ihrem Gott allein zu leben suchen, die kennen die innere Süßigkeit des göttlichen Friedens, welcher der wahren Selbstverleugnung verheißen ist, aus Erfahrung; die sehen es heller als andere, wie schrecklich die Täuschungen der Welt und wie mannigfaltig ihre Blendungen sind.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 115-117.
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