30. Kapitel
Wie man um die Hilfe Gottes bitten und mit Zuversicht auf die wiederkommende Gnade warten soll.

[132] 1. Der Herr: Mein Sohn! Ich bin der Herr, ich schaffe Kraft und Mut in den Tagen der Trübsal. Komm nur zu mir, wenn's dir nicht gut geht. Eben dies, daß du so spät betend zu mir kommst, schlägt die Tröstungen des Himmels so weit zurück. Denn ehe du inständig zu mir um Hilfe rufst, besuchst du jede andere Trostquelle, eine nach der anderen, willst du nur immer in Dingen außer dir und mir Labung finden. Und weil du die Labung am unrechten Orte suchst, nützt all dein Suchen wenig, bis dir endlich die Augen aufgehen, bis es dir hell einleuchtet, daß ich es bin, der alle errettet, die auf mich vertrauen; daß außer mir keine Hilfe durchhelfen, kein Rat recht raten, keine Rettung auf die Dauer retten kann. Aber, nun fasse wieder Mut, denn der Sturm ist für diesmal vorüber. Hole wieder neue Lebenskraft für dich aus der Fülle meiner Erbarmungen, die im hellen Lichte vor dir leuchten. Denn ich bin nahe (spricht der Herr), ich bin nahe, um alles wieder gut und ganz zu machen, und[132] nicht nur gut und ganz zu machen, wie es vorher war, sondern noch besser als es war, und im vollen, gerüttelten überfließenden Maße wieder herzustellen.

2. Ist für mich irgend etwas schwer, oder bin ich auch einer von denen, die viel verheißen und nicht tun, was sie verheißen? Wo ist dein Glaube? Steh fest und halte aus. Sei starkmütig und langmütig wie ein Held. Wenn die rechte Zeit kommt, kommt Trost in dein Herz. Harre nur, harre nur auf mich: ich komme gewiß und heile dich.

Es ist nur Versuchung, was dich plagt; nur eitle Furcht, was dich schreckt. Wozu nützt denn dein banges Sorgen wegen der Dinge, die da kommen können, als dich immer noch trauriger und wieder trauriger zu machen? Hat doch jeder Tag genug an seiner Plage! Wenn dir das, was vielleicht nie geschieht, den Sinn verrücken kann, bald durch falschen Schrecken, bald durch falsche Hoffnungen: wie eitel und fruchtlos ist dies dein Hoffen und Fürchten!

3. Doch menschlich ist es, von solchen Traumbildern getäuscht zu werden. Wer sich durch jede leise Eingebung seines Feindes ziehen und wie im Kreise umhertreiben läßt, der verrät, daß er eine kleine Seele und wenig Herz hat. Dem Feinde ist es übrigens einerlei, ob er dich mit wahren oder falschen Vorstellungen hintergeht, einerlei, ob dich die Anhänglichkeit an das Gegenwärtige oder die Furcht vor dem Zukünftigen zu Boden wirft, wenn du nur zu Boden geworfen wirst. Laß also keine Unruhe, keine Furcht dein Herz bemeistern. Glaube an mich und vertraue auf mein Erbarmen.

Oft, wenn du meinst, du seist von mir weit entfernt, bin ich am nächsten bei dir. Und wenn du denkst, jetzt ist alles verloren, gerade da kannst du am meisten gewinnen. Es ist nicht gleich alles verloren, wenn dir etwas wider Sinn und Wunsch begegnet. Du sollst nicht nach der Empfindung und aus der Empfindung, die du jetzt gerade hast, urteilen. Und was dich jetzt drückt und niederbeugt – gleichgültig, woher es kommt – das sollst du dir nicht so schwer auf die Seele[133] fallen lassen, als wenn es immer auf dir liegen bleiben müßte, als wenn keine Hoffnung mehr wäre.

4. Denk auch nicht, du wärest ganz verlassen, wenn ich dir auch auf eine Zeit irgend ein Leiden auflade oder den erwünschten Trost entziehe. Denn der Leidensweg ist die Eine königliche Straße in das Himmelreich. Und es ist für dich und meine übrigen Knechte ohne Zweifel besser, daß ihr in der Zuchtschule der Leiden hart mitgenommen werdet, als daß euch alles nach Sinn und Neigung geht.

Ich kenne die verborgenen Gedanken des Menschen; ich weiß, daß es dir zuweilen gut ist, so dürr und trocken, so ohne alle Teilnahme an Gott gelassen zu werden. Denn sonst möchte etwa der gute Fortgang dein Herz übermütig machen und sich ein geheimes Wohlgefallen an dem, was du in Wirklichkeit gar nicht bist, in deine Seele schleichen. Was ich dir gegeben habe, das kann ich dir wieder nehmen, wenn ich will, und auch wieder geben, wenn ich will.

5. Wenn ich's gebe, so ist es mein; und wenn ich's nehme, so habe ich nicht das Deine genommen. Denn mein ist alle gute Gabe, von mir kommt alle vollkommene Gabe. Wenn ich dir etwas Drückendes oder Widriges zusende, so laß dir den Kopf nicht schwindlig und das Herz nicht mutlos werden. Denn ich kann dir's wieder leicht machen und alle Bürde in Freude verwandeln. Wie ich es aber mit dir immer mache, so oder anders, ich bin in allem, was ich ordne und füge, gerecht und anbetungswert.

6. Wenn du einmal die rechte Weisheit und den geraden Blick auf die Wahrheit erlangt hast, dann braucht dich keine Trübsal mehr so mutlos und traurig zu machen. Du wirst vielmehr Freude daran haben und dafür danken. Du wirst deine einzige Freude darin finden, daß ich deiner nicht schone und dich mit allerlei Plagen schlage. Wie mich mein Vater geliebt hat, so liebe ich euch. Dies Wort (Joh. 15, 9) sprach ich einst zu meinen lieben Schülern, die ich ja aber auch nicht ausgesandt habe zum leichten Genusse zeitlicher Freuden, sondern zu schwerem Kampfe, nicht zu Ehren, sondern zum[134] Erdulden großer Schmach, nicht zum Müßiggehen, sondern zum Arbeiten, nicht zum Ausruhen, sondern zum Fruchtbringen in Geduld. Dieses Wort, mein Sohn, sei auch dein Herzens-Wort.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 132-135.
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