48. Kapitel
Von dem Tage der Ewigkeit und von der Nacht dieses Lebens.

[161] 1. Der Mensch: O du seligste Wohnstätte in der heiligen Stadt, die da droben ist! O du lichtheller Tag der Ewigkeit, den keine Nacht verdunkelt! Die höchste Wahrheit selbst ist deine Sonne, ihr Licht deine unvergängliche Heiterkeit! Du Tag der Freude, Tag der Sicherheit! Du kennst keinen Wechsel, bist ewig Ein und derselbe Tag. O daß auch mir dieser Tag schon aufgegangen wäre, daß auch für mich alles Zeitliche schon sein Ende genommen hätte! Den Heiligen leuchtet dieser Tag schon mit ewiger strahlender Klarheit; wir aber, die noch auf Erden hier pilgern, wir sehen ihn nur so von fern, nur wie im Spiegel.

2. Die Bürger des Himmels wissen es, was der Tag der Ewigkeit für ein Freudentag ist; wir Kinder unserer Stammmutter Eva, Pilger außerhalb des Vaterlandes, tun es durch unser Seufzen kund, wie bitter und elend der Tag dieses Lebens ist. Kurze, schlimme Tage dieser Zeit, voll Angst, voll Schmerz, in denen der Mensch von vielen Sünden befleckt, von vielen Leidenschaften gefangen, von vielen Furchten gefesselt, von vielen Sorgen umhergetrieben, von vielen[161] Begierden nach dem Neuen und Sonderbaren zerstreut, von vielen Eitelkeiten wie am Seile gezogen, von vielen Irrtümern umlagert, von vielen Mühen verbraucht, von vielen Versuchungen niedergedrückt, im Überflusse von Lust entnervt und in Dürftigkeit von Unlust gefoltert wird.

3. Wann werden doch diese Übel ein Ende nehmen? Wann werde ich aus diesem elenden Knechts-Stande, dem Sünden-Dienste, erlöst werden? Wann werde ich an dich allein, o mein Gott, denken können? Wann werde ich volle Freude, die dies mein Herz sättigt, in dir finden? Wann werden alle Ketten von mir wegfallen, wann werde ich die wahre Freiheit genießen, die Freiheit von allem Drucke des Leibes und der Seele? Wann kommt er denn einmal, der wahre Friede, ein Friede von innen und von außen, der sicher, ewigheiter und durchaus unwandelbar ist? Oh, guter Jesus! Wann werde ich dich sehen können, die Herrlichkeit deines Reiches schauen können? Wann wirst du mir alles in allem, wann werde ich bei dir in deinem Reiche sein, das du von Ewigkeit deinen Geliebten bereitet hast? Verlassen, arm und ein Vertriebener, hier in des Feindes Land, irre ich umher; nichts als Krieg und Krieg alle Tage, und großes Unheil um mich her.

4. Sende du deinen Trost in dies mein Elend herab, mildere du meine Pilgernot! denn all mein Sehnen sehnt sich nach dir, und alles, was mir die Welt zum Trost darreicht, ist mir nur eine neue Last. Dich möchte ich in innigster Vereinigung genießen, kann dich aber nicht erreichen. Dem Himmlischen möcht ich mit ganzer Seele anhangen, aber das Zeitliche drückt mich abwärts und meine ungetöteten Neigungen binden mich an die Erde. Emporschwingen, hoch über alle Dinge, möchte sich mein Geist; aber das Fleisch stößt ihn mit Gewalt und wider seinen Willen unter die vergänglichen Dinge hinab. So lebe ich unseliger Mensch mit mir selbst in hartem Streite und bin mir selbst zur Last, indem mich mein Geist immer hinauf und mein Fleisch immer hinab drängt und treibt.[162]

5. Oh, was leide ich im Inneren für heiße Leiden, wenn mein Geist selig Himmlisches betrachtet und unversehens ein Schwarm sinnlicher, irdischer Dinge den betenden Geist vom Himmel herab auf die Erde reißt! Mein Gott, sei nicht fern von mir, weiche nicht im Zorne von deinem Knechte! Sende deine Blitze und zerstreue sie, sende deine Pfeile und verscheuche sie – die törichten Gedanken, die der Feind in die Seele legt! Sammle alle meine Sinne und erhebe sie zu dir; lehre mich alles, was die Welt Vergängliches hat, vergessen und all die reizenden Bilder, mit denen die Sünde meine Seele angefüllt hat, zertrümmern und schnell aus der Seele schaffen. Du, ewige Wahrheit, eile mir zu Hilfe, damit mich keine Eitelkeit zum Weichen bringt. Und du, himmlische Freude, ströme in mein Herz, damit alle Unreinigkeit der irdischen Lust vor deinem Angesicht dahin flieht.

Verzeih mir's, verzeih mir's nach der Fülle deiner Erbarmungen, so oft ich im Gebete etwas anderes als dich im Auge habe. Denn ich muß wahrhaftig meine Schwäche bekennen: mein Gebet ist dauernd voll Zerstreuung. Ich bin gar oft nicht da, wo der Leib sitzt oder steht; da bin ich oder dort, wo mich mein Gedanke mit sich fortreißt. Ich bin da, wo mein Gedanke ist, und mein Gedanke ist da, wo das ist, was ich liebe. Was meine sinnliche Natur ergötzt oder was mir durch Angewöhnung lieb geworden ist, das kommt mir leicht in den Sinn.

6. Daher fühle ich recht die Wahrheit deines Wortes (Matth. 6, 21): Wo dein Schatz, da dein Herz. Wenn ich das Himmlische lieb habe, so denke ich gern an das Himmlische; wenn ich das Irdische lieb habe, so habe ich Freude, wenn die Ereignisse dem irdischen Sinn angenehm, und habe Kummer, wenn sie ihm unangenehm sind. Wenn ich das Sinnliche lieb habe, so sind meine Vorstellungen voller Sinnlichkeit; wenn ich das Geistliche lieb habe, so habe ich am Geistlichen meine Freude. Was ich immer lieb habe, davon rede und höre ich gern reden, davon nehme ich auch die Bilder mit mir und trage sie nach Hause. Aber selig der Mann, der um deinetwillen,[163] o Gott, allen Geschöpfen Abschied gibt, der der Natur Gewalt antut, der die Begierden im heiligen Eifer des Geistes ans Kreuz schlägt, damit er mit reinem, heiterem Gewissen reine Gebete dir opfern kann und losgerissen von allem Irdischen, in ihm und außer ihm, würdig werde, in den Chören der Engel zu weilen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 161-164.
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