49. Kapitel
Von der Sehnsucht nach dem ewigen Leben und von den großen Verheißungen für die mutigen Kämpfer.

[164] 1. Der Herr: Mein Sohn, wenn sich ein höheres Leben in dir regt und das Verlangen nach der ewigen Seligkeit sich in dir entzündet, wenn es dich wirklich verlangt, vom Leibe zu scheiden, um meine Klarheit in jenem Lichte ohne Schatten anzuschauen, oh, dann erweitere deine Seele und laß dies heilige Feuer den tiefsten Grund deines Herzens durchglühen. Danke, soviel du danken kannst, der höchsten Liebe, die so freundlich mit dir umgeht, dich so gütig besucht, dich so mächtig entzündet und dich über dich so hoch erhebt, damit du nicht wieder von eigener Schwere gezogen zur Erde fällst. Das aber ist nicht das Werk deines Sinnens und deines Beginnens, sondern eine unverdiente Gabe Gottes, der dich mit Vaterhuld anblickte und milde zu sich aufwärts zog, damit du in allen Tugenden und besonders in der Demut zunehmen, dich auf kommende Kämpfe rüsten, mir mit ungeteilter Liebe anhängen und mit einem nie erkaltenden Eifer dienen möchtest.

2. Mein Sohn, oft brennt das Feuer auf deinem Herde; aber die Flamme ist nicht ohne Rauch. So brennen in vielen Herzen viele Begierden nach dem Himmlischen; aber die Flamme dieser Begierden ist nicht rein von dem Rauche der sinnlichen Neigung. Deshalb begehren sie von mir mit heißem Flehen bald dies, bald jenes; aber es ist nicht reiner,[164] ganz lauterer Eifer für die Ehre Gottes, der sie zu diesem heißen Flehen treibt. So ist auch dein Verlangen gar oft beschaffen; es ist zu ungestüm, um ganz rein zu sein. Denn wer seinen eigenen Nutzen sucht, sucht sich selbst, und wer sich selbst sucht, befleckt mit der Eigenliebe, die sich selbst sucht, alles, was er sucht. Denn alles, was mit Eigenliebe befleckt ist, ist befleckt, von Eigenliebe angesteckt.

3. Begehre nie von mir, was dir Freude und Vorteil gewähren kann, sondern, was mir gefällt, was meine Ehre befördert. Denn, wenn dein Urteil vernünftig ist, so sollst du ja meinen Willen und was er ordnet bei dir mehr gelten lassen als all dein Verlangen. Ich kenne dein Verlangen und habe alle deine Seufzer gehört. Du möchtest jetzt schon in der Freiheit sein, die den Kindern Gottes im Lande der Herrlichkeit Vorbehalten ist. Jetzt schon hast du Freude an dem unzerstörbaren Haus, an dem himmlischen Vaterland, das mit lauter Freude angefüllt ist. Aber diese deine Stunde ist noch nicht gekommen. Jetzt ist noch eine andere Stunde für dich, die Stunde des Streites, der Mühe, der Prüfung. Du wünschst, das höchste Gut jetzt schon zu besitzen, aber du kannst es jetzt noch nicht erreichen. Ich lebe: Warte auf mich (spricht der Herr [Luk. 22, 18]), bis das Reich Gottes kommt.

4. Du mußt noch viele Prüfungen, mancherlei Übungen hier auf Erden durchmachen. Trost wird dir bisweilen gereicht werden, aber ein Genuß, der dein ganzes Herz sättigt, kann dir nicht gegeben werden. Fasse also neuen Mut und sei Mann, stark zum Leiden und stark zum Handeln, wenn sich gleich deine Natur noch so sehr dagegen sträubt. Du mußt einen neuen Menschen anziehen und in einen anderen Mann verwandelt werden. Du mußt oft tun lernen, was du nicht willst, und verlassen, was du behalten möchtest. Was andere wollen, wird zustande kommen; was du willst, ins Stocken geraten. Was andere sprechen, wird Gehör und Beifall finden; was du redest, für nichts geachtet werden. Andere werden mancherlei begehren und erhalten,[165] was sie begehren; du wirst auch begehren, aber nichts erhalten.

5. Andere werden berühmte Männer werden, von denen sich die Leute nicht satt reden können, aber von dir wird es überall so stille sein, als wenn du nicht einmal auf Erden wärest. Anderen wird man diesen oder jenen wichtigen Auftrag geben, du aber wirst in dem Urteile der anderen zu nichts taugen. Darüber wird sich dann dein Herz bekümmern, und es wird viel sein, wenn du diesen Kummer stillleidend wirst tragen können. Durch diese und andere Erfahrungen muß der treue Knecht des Herrn erprobt werden, wie weit er sich selbst verleugnen und allen seinen Eigensinn und Eigenwillen brechen lernt. Es gibt kaum etwas, worin es dir so nottut abzusterben, wie im Sehen und Leiden dessen, was deinem Willen zuwider ist, besonders wenn dir Dinge befohlen werden, die unschicklich sind und die dir minder nützlich zu sein scheinen. Und weil du, unter deinen Oberen gesetzt, es nicht wagen willst, der höheren Gewalt zu widerstehen, so wird es dir schwer, immer nur nach dem Winke eines anderen zu wandeln und stets deine eigenen Empfindungen zu verleugnen.

6. Aber denke, mein Sohn, daß dies alles bald ein Ende nehmen und auf die Aussaat eine schöne Ernte, auf die Mühe ein großer Lohn folgen wird; und es wird dir leichter werden und deine Geduld einen festen Trostgrund finden. Denn dafür, daß du jetzt deinen Willen daran gibst, dafür wirst du einst im Himmel deinen Willen in allem wieder haben. Dort wirst du ja alles finden, was du willst, alle deine Wünsche werden dort in Erfüllung gehen. Dort wird dir alle Kraft zum Genusse alles Guten gegeben, ohne die Furcht, es wieder zu verlieren. Dort wird dein Wille Ein Wille mit dem meinigen sein und nichts wollen, was fremd und einem anderen zugehörig ist. Dort wird dir niemand widerstehen, niemand sich über dich beklagen, niemand deine Macht hemmen, niemand deinen Willen beschränken; alles, was du verlangst, wird auch da sein, wird all dein Verlangen befriedigen[166] und bis zum Äußersten erfüllen. Dort werde ich dir alle Schmach mit Ehre, alle Traurigkeit mit Freude, und den letzten Platz, den du auf Erden eingenommen hast, mit dem ersten Platz in meinem Reiche vergelten, und dieser Lohn wird kein Ende nehmen. Dort wird der Gehorsam die schönsten Früchte ernten, der Schmerz der Buße in jauchzendes Wohlsein verwandelt und der Demut, die sich unter alle gesetzt hat, die Krone der Herrlichkeit aufgesetzt werden.

7. So neige und beuge dich denn jetzt unter alle, und laß dich's nicht ängstigen, wer das gesagt, wer jenes befohlen hat. Aber das laß deine Sorge sein, daß du, es mag ein Vorgesetzter oder ein Minderer oder einer deinesgleichen, im gebietenden Tone oder mit freundlichem Winke, etwas von dir fordern, daß du alles, was sie wollen, so gut wie möglich deutest und ohne Falsch zustande bringst. Einer wird das, ein anderer etwas anderes haben wollen; dieser in diesem, jener in jenem seinen Ruhm suchen und wieder ein anderer tausendmal tausend Lobsprüche erhalten; du aber mußt weder in jenem noch in diesem deine Freude suchen, sondern das allein laß deine Freude sein, daß du dich selbst verachtest und daß mein Wohlgefallen vollbracht und meine Ehre gefördert wird. Denn das ist für dich wünschenswert, daß Gott in dir allezeit verherrlicht werde, durch dein Leben wie durch dein Sterben.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 164-167.
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