55. Kapitel
Von der Verdorbenheit der menschlichen Natur, und von der siegenden Kraft der göttlichen Gnade.

[179] 1. Der Mensch: Nach deinem Bilde, o mein Gott und Herr, hast du mich erschaffen. Schenke mir nun auch deine Gnade, die ich durch deine Unterweisung als ein so großes und zu meinem Heile unentbehrliches Gut erkannt habe. Schenke mir deine Gnade, damit ich die Natur überwinden kann, welche so zerrüttet und verdorben ist und mich zu Sünde und Verderben fortreißt. Denn ich fühle in meinem Fleische das Gesetz der Sünde, das dem Gesetze meines Geistes widerspricht und mich wie einen Gefangenen fortschleppt, daß ich in so mancherlei Dingen der Sinnlichkeit wie ein Sklave Gehorsam leiste; und ich kann den Leidenschaften keinen entscheidenden Widerstand leisten, wenn mir deine Gnade nicht streiten hilft und wie eine heilige Flamme mein Herz zum Guten entzündet.

2. Deine Gnade ist notwendig, und große Gnade ist notwendig, daß die Natur, die von Jugend auf zum Bösen geneigt ist, besiegt wird. Nachdem die menschliche Natur durch den ersten Menschen Adam gefallen und durch die Sünde zerrüttet worden ist, pflanzt sich dieser Makel auf alle Menschen fort. Die Natur, die du gut und rein geschaffen hast, ist jetzt zerrüttet, krank, verdorben. Denn ihre Regung, sich selbst überlassen, treibt zu dem, was böse und niedrig ist. Nur eine geringe Kraft ist uns übrig geblieben, gleich einem Fünklein in der Asche verborgen. Und dieses Fünklein ist die natürliche Vernunft, die, mit großer Finsternis umhüllt, nur noch Gutes und Böses, Wahres und Falsches zur Not unterscheiden, aber das Gute, das sie selbst billigt, nicht vollbringen, das Wahre, das sie sucht, nicht im vollen Licht schauen, die Gesundheit der Neigungen, die sie selbst wünscht, nicht durch sich selbst herstellen kann.

3. Daher kommt es, daß ich nach dem inneren Menschen[179] Freude habe an deinem Gesetz, o mein Gott! indem ich wohl weiß, daß dein Gebot gut, gerecht, heilig ist und alles Böse verdammt und alle Sünde fliehen lehrt. Aber dem Fleische nach diene ich dem Gesetze der Sünde. Ich gehorche mehr der Sinnlichkeit als der Vernunft. Gutes wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen finde ich nicht in mir. Daher kommt es, daß ich so vielerlei gute Entschlüsse fasse, aber bei einem geringen Widerstande springe ich zurück und erliege unter dem Drucke der sinnlichen Natur, wenn deine Gnade meine Schwachheit nicht stützt. Daher kommt es, daß ich das Bessere, das ich tun sollte, und das mich nach und nach zur Vollkommenheit führen würde, klar genug einsehe, aber, von dem Gewicht der eigenen Verdorbenheit niedergedrückt, zu dem, was besser ist, mich wirklich emporzuheben nicht vermag.

4. Oh, wie höchst notwendig habe ich deine Gnade, um das Gute anzufangen, fortzusetzen und zu vollenden! Ohne diese Gnade kann ich nichts tun; aber, wenn mich diese Gnade stärkt, dann vermag ich durch dich Alles. O du wahrhaft himmlische Gnade! ohne dich hat keine Naturgabe, keine Schönheit, keine Leibesstärke, keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Beredsamkeit, kein eigenes Verdienst ein Gewicht, einen Wert vor dir, dem Herrn. Denn die Gaben der Natur haben gute und böse Menschen miteinander gemein; aber die Gnade, das ist: die heilige Liebe, die den Menschen des ewigen Lebens würdig macht, ist das rechte Unterscheidungszeichen der Auserwählten. So unübertrefflich ist diese Gnade, daß ohne sie selbst die Gabe der Weissagung und die Gabe Wunder zu wirken und das tiefste Forschen so viel als nichts gelten. Noch mehr: ohne diese Gnade, ohne diese Liebe ist weder Glaube, noch Hoffnung, noch eine andere Tugend gottgefällig.

5. Oh, du seligste Gnade! dir ist es gegeben, den, der arm im Geiste ist, reich an Tugend, und den, der an vielen Gaben reich ist, von ganzem Herzen demütig zu machen. So komm denn du, steig herab zu mir und erfülle mich am Morgen[180] mit deinen Tröstungen, damit meine Seele den Tag über nicht verschmachte und in sich verdorre. Laß mich, o Gott! Gnade finden vor deinem Angesicht; denn an deiner Gnade habe ich genug, wenn ich auch nicht habe, was die Natur verlangt. Es mögen noch so viele Versuchungen und Trübsale über mich kommen, ich fürchte nichts, wenn nur deine Gnade bei mir ist. Sie ist meine Stärke, sie schafft mir Rat und Hilfe. Sie ist mächtiger als alle meine Feinde, weiser als alle Weisen.

6. Sie ist die Lehrerin der Wahrheit, die Mutter der Zucht, das Licht des Herzens; sie schafft Trost in der Bedrängnis, verjagt die Traurigkeit, verscheucht die Furcht, nährt die Andacht und feuchtet das Auge mit Tränen. Was bin ich ohne sie anderes, als ein dürres Holz, ein abgestandener Wurzelstock, der zu nichts taugt als hinausgeworfen zu werden? Also deine Gnade komme mir allzeit zuvor, deine Gnade begleite mich überall, deine Gnade folge mir überall nach und lasse mich nie müde werden Gutes zu tun, durch Jesus Christus, deinen Sohn. Amen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 179-181.
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