9. Kapitel
Gott, das letzte Ziel des Menschen: bezieh alles auf ihn!

[99] 1. Der Herr: Mein Sohn, wenn du die wahre Seligkeit finden willst, so muß ich dein höchstes und letztes Ziel sein. Wenn ich dein höchstes und letztes Ziel bin, dann reinigt sich alles Dichten und Trachten deines Herzens, das sich oft übel zu dir selbst und zu andern Geschöpfen abwärts neigt. Denn sobald du dich selbst in irgend einem Dinge suchst, so findest du auch lauter Dürre und Ohnmacht zum Guten in dir. So mußt du denn alle Dinge zu mir als der Urquelle zurückführen, denn ich bin ja der Geber aller Dinge. Lerne alle Dinge so anzusehen, wie sie als viele Bächlein aus dem höchsten Gut ausfließen, und leite eben darum alle Dinge zu mir als ihrem Ursprung wieder zurück.

2. Groß und klein, arm und reich, alle schöpfen aus mir als ihrer lebendigen Brunnquelle lebendiges Wasser. Und die mir aus freier Liebe dienen, die nehmen Gnade um Gnade von mir. Wer aber anderswo als in mir Ehre sucht in einem ihm selbst eigenen Gute, der sucht umsonst; nirgends wird er dauerhafte Freude finden; überall wird es seinem Herzen zu enge sein, und auf allen seinen Wegen wird ihm Hindernis und Herzeleid begegnen. Du mußt also das Gute, das etwa in dir sein mag, nicht dir, und die Tugend, die du in irgend einem Menschen findest, nicht dem Menschen, du mußt alles Gute Gott zuschreiben; denn ohne Gott hat der Mensch nichts. Ich habe alles gegeben; und ich will dich ganz haben, und ich fordere den Dank mit großer Strenge.

3. Dies ist die rechte Wahrheit, die alle eitle Ruhmbegier verjagt. Und wenn in irgend einem Herzen die himmlische Gnade und die wahre Liebe Herberge nehmen, da finden Neid und Eigenliebe und alles, was dir die Freiheit des Herzens rauben könnte, keine Stelle mehr. Denn die göttliche Liebe überwindet alles und erweitert alle Kräfte der Seele. Hast du einmal die rechte Weisheit gefunden, dann findest[99] du keine Freude mehr als in mir allein, dann ruht alle deine Hoffnung auf mir allein. Denn niemand ist gut, als Gott allein, und der Alleingute soll auch über alles gelobt und in allem verherrlicht werden.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 99-100.
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