1. Kapitel
Von der Ehrfurcht, mit der wir uns dem Tische des Herrn nahen und Christus empfangen sollen.

[191] Der Herr: Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken (spricht der Herr, Matth. 11, 28). Das Brot, das ich geben werde, das ist mein Fleisch, welches ich für das Leben der Welt hingeben werde (Joh. 6, 52). Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch wird hingegeben werden: dies tut zu meinem Gedächtnis (Luk. 22, 19). Wer mein Fleisch ißt, und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm (Joh. 6, 57). Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und Leben (Joh. 6, 64).

1. Der Mensch: Diese Worte sind deine Worte, ewige Wahrheit, Jesus Christus, ob sie gleich deine Zunge nicht zu Einer Zeit ausgesprochen, noch die Heilige Schrift in Einer Stelle zusammengefaßt hat. Weil sie aber doch deine Worte sind, und Wahrheit sind, so muß ich sie aus deinem Munde mit allem Danke annehmen und mit aller Treue bewahren. Diese Worte sind dein, und du hast sie einst ausgesprochen. Sie sind aber auch mein, denn du hast sie zu meinem Heile ausgesprochen. Willig nehme ich sie aus deinem Munde, damit sie tiefer in meine Seele dringen. Es ist in diesen Worten so viel Lieblichkeit, Milde und Liebe, daß sie mich mit sanfter Gewalt zu dir hinziehen. Aber meine eigenen Sünden schrecken mich, und mein unreines Gewissen schlägt mich zurück, indem ich mich diesen großen Geheimnissen nahen will. Die Freundlichkeit deiner Einladung lockt mich zu dir, aber die große Bürde meiner Sünden drückt mich nieder.[191]

2. Es ist ein Gebot deiner Liebe, daß ich mit Zuversicht zu dir hintreten soll, wenn ich Teil an dir haben will; daß ich von dem Brote der Unsterblichkeit essen soll, wenn ich in deiner Herrlichkeit ewig leben will. Du sprichst: Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Oh, ein teures, freundliches und liebliches Wort im Ohre des Sünders, daß du, mein Herr und Gott, einen Armen und Dürftigen zu dir einladest, daß er dein Fleisch esse und dein Blut trinke und ewig lebe. Aber wer bin ich, o mein Herr, daß ich es wagen darf, dir zu nahen? Sieh! die Himmel der Himmel fassen dich nicht, und du sprichst: Kommt zu mir alle!

3. Was willst du denn mit dieser so milden Herablassung, mit dieser so freundlichen Einladung? Wie will ich es wagen, zu dir zu kommen, da ich nichts Gutes in mir finde, das mir Mut machte, vor dir zu erscheinen? Wie werde ich dich in meine Hütte hereinführen dürfen, da ich dein Angesicht voll Gnade und Liebe so oft mit meinem Undank beleidigt habe? Engel und Erzengel haben Ehrfurcht vor dir; Heilige und Gerechte zittern vor dir, und du sprichst: Kommt alle zu mir! Wenn du, Herr, das nicht selbst sagtest, wer würde es glauben? Und wenn es nicht dein Gebot wäre, wer würde es wagen, dir zu nahen?

4. Sieh! Noah, der gerechte Mann, baute hundert Jahre an seiner Arche, damit er und wenige mit ihm könnten gerettet werden; und ich, wie werde ich in Einer Stunde mein Gemüt in die rechte Verfassung bringen und dem Baumeister der Welt eine würdige Wohnstätte in mir bereiten können?

Moses, dein großer Diener und besonderer Freund, ließ die Bundeslade aus einem Holze, das der Verwesung am kräftigsten widersteht, verfertigen und mit dem reinsten Golde überziehen, worein er die Tafeln des Gesetzes legte; und ich, ein verwesliches Geschöpf, wie soll ich es wagen, dich, den Gesetzgeber selbst, dich, das Leben des Lebens, in mein Herz aufzunehmen?

Salomo, der weiseste von den Königen Israels, baute sieben[192] Jahre lang an einem prächtigen Tempel zur Ehre deines Namens, feierte das Fest der Tempelweihe ganze acht Tage, opferte tausend Friedens-Opfer und ließ die Bundeslade unter Trompetenschall und Jubelgesang an die zubereitete Stätte mit allem ersinnlichen Feiergepränge einsetzen. Und ich, eines der ärmsten und elendsten Menschenkinder, wie darf ich es wagen, dich in mein Haus einzuführen, da ich kaum eine halbe Stunde in ungestörter Andacht zubringen kann? Ach wenn ich auch nur in meinem ganzen Leben eine einzige halbe Stunde dir allein in voller Andacht des Herzens geweiht hätte!

5. O mein Gott, was und wie viel haben deine treuen Diener unternommen, um dir zu gefallen! Und wie gering ist alles, was ich tue? Wie kurz ist die Zeit, die ich auf meine Vorbereitung zur Kommunion verwende! Selten bin ich ganz in mir gesammelt, noch seltener bleibe ich auch nur eine kurze Weile in mir gesammelt, ohne die zerstreuenden Gedanken wieder Eingang finden zu lassen. Und doch sollte in deiner heilschaffenden Gegenwart kein ungeziemender Gedanke sich in meinem Innersten regen, kein Geschöpf deine Stelle in meinem Herzen einnehmen; denn es ist nicht etwa ein Engel, es ist der Herr der Engel, den ich in mir beherbergen will.

6. Es ist wahrhaftig ein großer Abstand zwischen der Bundeslade und allen ihren Heiligtümern und zwischen deinem reinsten Leibe und seinen unaussprechlichen Kräften; ein großer Unterschied zwischen jenen Bundesopfern, die nur ein Vorbild der Zukunft sein sollten, und zwischen dem wahren Opfer deines Leibes, das den Sinn aller Opfer der Vorzeit lebendig darstellt und vollkommen erfüllt.

7. Wie kommt es denn aber, daß deine Gegenwart, die überall die höchste Ehrfurcht einflößen sollte, mein kaltes Herz nicht in Flammen setzt? Warum bereite ich mich nicht mit mehr Eifer vor, dein heiliges Abendmahl zu genießen, nachdem jene alten heiligen Stammväter und Propheten und Könige und Fürsten mit ihrem ganzen Volke in der öffentlichen[193] Verehrung deines Namens so viel Andacht bewiesen haben?

8. Tanzte doch der König David im Feuer der heiligen Empfindung Vor der Bundeslade Gottes, indem ihm die Wohltaten, die seine Väter vom Herrn empfangen hatten, vor Augen schwebten. Er ließ allerlei Musikinstrumente verfertigen, verfaßte selbst geistliche Lieder, ließ sie öffentlich und mit festlicher Freude singen, sang selbst mit und spielte oft auf der Harfe, wie es ihm der Heilige Geist in das Herz gab; er lehrte das Volk Israel seinen Gott mit ganzer Seele preisen und dessen Größe wie mit einem Munde alle Tage in Dank- und Lob-Gebeten kund tun. Wenn sich nun damals, im Anblicke der Bundeslade, das Feuer der Andacht schon so mächtig in ihm regte und er das Lob Gottes sich so zu Herzen nahm: welche Ehrfurcht und Andacht soll jetzt mich und das Christenvolk beseelen im Anblicke des Sakraments, und bei dem Genusse des heiligsten Leibes unseres Herrn Jesus Christus?

9. Viele laufen an vielen Orten hin und her, um die Reliquien der Heiligen zu besuchen, und geraten in große Verwunderung, wenn sie von ihren Taten erzählen hören, die prächtigen Kirchengebäude anschauen und die Gebeine der Heiligen, in Seide und Gold eingefaßt, andächtig küssen. Und sieh, du, mein Gott, du der Heilige aller Heiligen, du der Schöpfer aller Menschen und der Herr aller Engel, du bist hier, auf dem Altare, zugegen. Bei jenem Laufen und Sehen läuft doch auch viel Neugierde mit unter; es reizt uns das Nochnichtgesehene, und am Ende haben wir nicht viel Nutzen davon, besonders, wenn es nur ein leichtsinniges Hin- und Her-Rennen ist, das die Seele kalt und ohne wahre Herzensreue läßt. Hier in dem Sakramente des Altars aber bist du selbst ganz gegenwärtig, mein Gott. Mensch Jesus Christus! Wer dich würdig und mit wahrer Andacht in sein Herz aufnimmt, der erntet reiche Frucht des ewigen Heiles. Zu dieser Kommunion aber treibt den Christen nicht Neugier, nicht Leichtsinn, nicht Sinnlichkeit,[194] sondern lebendiger Glaube, feste Zuversicht und aufrichtige Liebe.

10. Unsichtbarer Schöpfer der Welt, Gott, wie wunderbar handelst du mit uns! Wie lieblich und voll Gnade gehst du mit deinen Auserwählten um, indem du dich selbst im Sakramente ihnen zur Speise gibst und dich mit ihnen vereinigst! Dies übersteigt wahrhaftig alle Begriffe, die sich der menschliche Verstand machen kann; dies zieht die Herzen der Frommen mit besonderer Kraft zu dir; dies entzündet ihr ganzes Verlangen nach dir. Denn deine wahren, treuen Freunde, die ihr ganzes Leben zu ihrer Besserung verwenden, empfangen aus diesem allerwürdigsten Sakrament neue himmlische Kräfte zur Andacht und zur Liebe der Tugend.

11. O wie ist die Gnadenfülle dieses Sakraments so wunderbar und geheimnisvoll! Nur die gläubigen Freunde Jesu Christi kennen sie; aber die Ungläubigen und die Sklaven der Sünde können sie nicht erfahren. In diesem Sakrament wird uns neue Geisteskraft mitgeteilt, der verlorene Tugendsinn erneuert, und die Schönheit der Seele, die durch die Sünde verunstaltet ward, wieder hergestellt. Diese Gnade erreicht manchmal ein so großes Maß, und die Andacht, die daraus entsteht, ein solches Übermaß, daß nicht nur der Geist, sondern auch der schwächliche Leib neue Kraft empfängt.

12. Es ist jedoch schmerzlich zu beklagen, daß wir so lau und nachlässig sind, daß uns kein lebendigeres Verlangen, Christus zu empfangen, zu ihm hintreibt, da doch die ganze Hoffnung aller, die da selig werden sollen, und ihr ganzes Verdienst auf ihm beruht. Denn er ist unsere Heiligung und Erlösung, er die Trostquelle für die Pilger, er die ewige Seligkeit für die Heiligen. Traurig genug, daß so viele dies heilschaffende Geheimnis so wenig in acht nehmen, ein Geheimnis, das die Freude des Himmels und das Heil der ganzen Welt ausmacht. Wahrhaftig, es gehört eine unbegreifliche Blindheit und Verhärtung des menschlichen Gemütes dazu, daß wir für dies unaussprechliche Geschenk nicht mehr[195] Gefühl und Achtung haben und selbst aus dem täglichen Gebrauche unachtsamer und gefühlloser dafür werden.

13. Denn, würde dieses heiligste Sakrament nur an Einem Orte und von Einem Priester in der Welt konsekriert: mit welchem Sehnen würden die Menschen nicht nach diesem Orte und zu diesem Priester Gottes eilen, damit sie an den göttlichen Geheimnissen Anteil nehmen könnten! Nun aber sind viele Priester und Christus wird an vielen Orten geopfert, damit die Gnade und Liebe Gottes sich desto hellleuchtender offenbaren möchte, je öfter und an je mehr Orten die heilige Kommunion gehalten wird.

Ich danke dir, unsterblicher Hirt! Guter Jesus, ich danke dir, daß du uns arme und im Elende schmachtende Pilger mit deinem kostbaren Leib und Blut zu erquicken würdigst und noch zu diesem Mysterium so freundlich (Matth. 11, 28) einlädst: Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 191-196.
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