Zehntes Kapitel.

[26] Es war in derselben Nacht, Meister Lambert war noch mit Berechnung gewisser Formeln beschäftigt, da trat Sililie zur Mitternachtsstunde in sein Gemach und fragte ängstlich: »Meister! o hört Ihr nicht da oben den wunderbaren Gesang? Er kommt wie aus der Kammer des Alten, und ich vermag nicht mehr auf dem Lager zu bleiben.« – »Es ist der Wind, der durch das Schilf am See bläst«, sagte Lambert. Da tat es in der Kammer des Alten einen dumpfen Fall.

»Laß uns auf den Boden gehen«, sprach Lambert.

Sie nahmen Licht und traten in die Kammer des Alten ein. Er lag auf seinem Lager nicht anders, als wär' es sein steinern Bild, das man ihm zu einem Grabsteine bereitet. Die Schildkröte, seine treue Gefährtin, lag auf seiner Brust, aber sie zeigte kein Leben mehr, ihre Schale war zersprungen. »Es ist gewiß,« sprach Sililie, »daß jene wunderbaren Töne aus dieser Kammer kamen, und daß der Alte vor seinem Hinscheiden noch gesungen. Seht nur seine Hände, wie alt, wie die Haut der Schildkröte, und sein Nacken scheint wie die Rinde eines alten Baumes mit Moos bewachsen. Aber seine Augen, die haben sich ganz geöffnet und sind kristallhell, himmelblau als wie zwei große Tautropfen auf einer blauen Wasserlilie.«

»Du ruhst wohl, rätselhafter Mann!« sprach Lambert; »deine harte Schale ist zerbrochen, und dein banger Traum ist geendet!«

Der Tod des Alten wurde bald rings im Gebirge bekannt. Männer, Frauen und Kinder kamen häufig herbei, den Waldvater noch einmal zu sehen und ihn zu Grabe zu geleiten. Lambert hatte schon längst für ihn eine Bestattungsstelle ausersehen; es war eine von Bergkristallen und Tropfsteinen ausgekleidete Höhle, die sich unweit seiner Wohnung in einem Felsen befand. Das Wasser, das von ihren Wandungen niederträufelte, hatte die Kraft, alles bald in Stein zu verwandeln. »In diese Höhle«, sprach Lambert, »laßt uns die Hülle des Alten legen; sie sei nicht der Verwesung preisgegeben. Wie ihr ihn, als er noch auf der Erde war, Waldvater, Geist dieser alten Wälder, nanntet, so liege er nun, da er nicht mehr auf der Erde weilen darf, unverweslich hier unten, Geist der Wasser, Metalle und Gesteine dieser Gebirge.«

»Geh, Sililie!« sprach er weiter »bereite ihm in der Höhle ein Lager von Tulpen und Wasserlilien; auch diese wird die Kraft des Wassers unverweslich erhalten.«[27]

Sililie bereitete der Leiche ein buntes Lager von Blumen. Wer diese holde Gestalt so unter Blumen und Bergkristallen in dunkler Höhle beschäftigt gesehen hätte, der würde nichts anders in ihr als ein seltsames Berg- oder Nachtfräulein vermeint haben.

Um Mitternacht der folgenden Nacht trugen sechs der ältesten Männer dieser Gebirge, von denen jeder mehr als das achtzigste Jahr erreicht hatte, unter Begleitung Lamberts und vieler Gebirgsbewohner die Leiche im Scheine der Fackeln zur Höhle. Ein Chor weißgekleideter Jungfrauen war vorangeschritten. Da legten sie den durch Alter und Tod ganz erstarrten Körper auf Blumen nieder.

Ein Kranz von Schilfblättern war um sein Haupt geschlungen. Seine Augen gaben wie die Kristalle der Höhle hellen Schein. Die Höhle selbst war durch das Licht der Fackeln wundersam erleuchtet. Es brannten die bunten Kristalle in den Farben lichter Regenbogen. Die Tropfsteine aber standen, wundersame Gestaltungen, bald in dunkeln, bald in lichten Gruppen umher.

Nachdem sie die Hülle des rätselhaften Alten noch eine Zeitlang mit stiller Andacht betrachtet, sang der Chor der Jungfrauen folgende Strophen:


»Nun schließt das felsige Gemach,

Verwesung dring' nicht ein.

Wohl ruht sich's bei Metallen licht,

Bei Wassern und Gestein.

Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!

Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!


Verwelket nicht, ihr Blumen bunt,

Auf die wir ihn gelegt.

Blüht auf zum farbigsten Kristall,

Vom Bergfräulein gepflegt.

Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!

Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!


Erglüh' mit dem Kristall der Kluft,

Du Aug' mit hellem Schein,

Einst finde man im Felsen dich

Als reichen Edelstein.

Schlaft süß, schlaft süß, ihr müden, müden Glieder!

Kristallne Wasser, träufelt tönend nieder!«


Hierauf wälzten sie einen großen Felsstein vor die Höhle und vermauerten die noch offenen Stellen.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 26-28.
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