Elftes Kapitel.

[28] Der Graf hatte Luchs und Serpentin in die alte Kapelle seines Schlosses geführt. Sie betrachteten die gemalten Glasscheiben der Kapelle mit ihren Heiligenbildern. Serpentin konnte die Glut ihrer Farben nicht genug bewundern. Mit solchem Himmelsscheine traten ihm einst Bilder in der Nacht der Gebirge vors Auge. »Solche Bilder«, sprach Luchs, »erscheinen oft am Himmel im Farbenschmelz des Abends. Derlei Malerei ist dem Himmel selbst abgelernt. Das ist das Gold der Sonne, die Glut des Abendrots, die Bläue des Äthers. Gewiß hat diese Kunst ein kindlich klares Gemüt zuerst geübt oder ein frommes Gemüte, dem zum erstenmal in solcher Glorie ein Heiliger erschien. Wir besitzen diese Reinheit nicht mehr, diese Kunst ist uns verloren gegangen, wir sind zu weise und groß geworden.« Jetzt betrachteten sie ein Bild des Erlösers am Kreuze, auf Goldgrund gemalt. »Auch diese Art der Malerei wird nicht mehr geübt,« sprach der Graf, »und doch so herrlich treten auf einem solchen Grunde die Gestalten hervor; er ist ein Heiligenschimmer, der über das ganze Gemälde hinfließt.« Vor diesem Gemälde blieb Serpentin in stiller Andacht stehen, nicht bemerkend, daß der Graf mit Luchs in seine Familiengruft gestiegen war.

»Wie Ihr sie in jenem Saale oben in lebendigen Farben sahet,« sprach der Graf, »liegen sie hier unten, verstorbene Leichen, in verschlossenen Sarkophagen. Alle sind hier versammelt, so getrennt sie auch voneinander lebten, ob sie auf dem Meere oder auf dem Lande der Sturm des Lebens herumtrieb, von diesem, der am Heiligen, Grabe kniete, bis auf diesen, der unter Braunschweigs Fahne in blutiger Schlacht erlag;« er deutete auf den Sarg seines Vaters. »Alle kamen hier zusammen. Nur einer fehlt, hier steht sein Sarkophag noch ungefüllt, es ist der, dessen Bild uns in vergangener Nacht durch seinen gewaltigen Fall erschreckte. Er war der Bruder, meines Urgroßvaters und hat den größten Teil seines Lebens zur See verlebt. Er war auf der Insel Helgoland geboren, daselbst brachte auch seine Mutter, durch gewisse politische Verhältnisse gezwungen, einige Jahre zu. Frühe zum Seedienst bestimmt, sollte sein Körper, um ohne Nachteil einst den wilden Elementen sich preiszugeben, auf das höchst Mögliche abgehärtet werden. Auf dieser rauhen Insel, die nicht einen Baum erzeugte, die gleichsam wie der gezackte Rücken eines versteinerten Seeungetüms aus dem Meere ragt, verlebte er[29] seine Kindheit, das Gestade des Meeres war sein liebster Spielplatz, Meerfische, Wurzeln und Wasser seine einzige Nahrung. Alle Sagen, die von dem Leben dieses Mannes zu uns kamen, verlieren sich fast in das Wunderbare und Abenteuerliche. Gewiß ist, daß er unter Seeräuber geraten und in Tunis mehrere Jahre in der drückendsten Gefangenschaft verlebte; auch ist gewiß, daß er mit der Tochter eines reichen Bankiers in Bremen heimlich verehelicht war, einer Jungfrau, deren wunderbare Schönheit ihm alle Widerwärtigkeiten äußerer Verhältnisse, die aus dieser Verbindung entsprangen, vergessen machte.

Das Schicksal aber trieb ihn bald aufs neue zur See; seine Gemahlin, mit der er einen Sohn erzeugte, ließ er an den Küsten von Spanien zurück. Fünf Jahre erhielt sie regelmäßig Nachrichten von ihm, dann blieben alle auf einmal aus, und nach zwei Jahren, die sie im tiefsten Kummer durchlebte, sandte man ihr seinen Totenschein. In ihrer Trauer versöhnten sich ihre Eltern wieder mit ihr, beredeten sie aber, in ihr Vaterland zurückzukehren und ihre Hand einem Landedelmann bei Oberoa zu geben. Sie verließ Spanien, indes ihr Sohn, an die Tochter eines Edelmannes in der Nähe von Valencia verheiratet, zurückblieb. Nachdem sie mit ihrem zweiten Manne schon viele Jahre durchlebt und mit ihm Kinder erzeugt hatte, soll sich, wie sie und ihr Gemahl eines Abends bei Tische saßen, die Tür geöffnet haben und ihr voriger Gemahl, ohne ein Wort zu reden, auf sie zugeeilt sein, sie geküßt haben und auf immer wieder verschwunden sein. Die Frau starb bald nachher an den Folgen des gehabten Schreckens. Von ihm aber ist nie eine Spur wieder zum Vorschein gekommen, als daß die Sage ging, er sei von Holzhauern nachher einmal in der Wildnis der Waldgebirge erblickt worden. Der Sohn, den er in Spanien zurückließ, starb, nachdem er viel Elend erlebt. Auch er hatte einen einzigen Erben, einen Sohn erzeugt, dem er sterbend noch den Rat gab, mit seiner Familie, einer Frau und drei Kindern, in die Heimat der Voreltern zu kehren. Keines aber von ihnen kam je in Deutschland an. Es ging die Sage: das Schiff, auf dem sie sich zur Heimfahrt befunden, sei im Meere versunken; andere wollen wissen, daß sie alle während eines Gefechts mit den Seeräubern umgekommen; und so ist nun dieser Zweig unserer Familie erloschen.«

Luchs stand während der Erzählung des Grafen in tiefem Nachdenken; einigemal wollte er den Grafen mit einer Frage unterbrechen, als ihm immer wieder die Frage entfiel. Er[30] folgte in tiefem Sinnen dem Grafen aus der Gruft in die Kapelle. Serpentin stand noch immer in tiefer Andacht vor dem Bilde des Gekreuzigten; unwillkürlich hatten sich seine Hände gefaltet, seine Knie gebogen. Der Goldgrund des Gemäldes war ihm zum goldenbrennenden Abendhimmel geworden. Darin stand das sterbende heilige Bild und hatte seine Arme versöhnend über die weite Erde ausgereckt.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 28-31.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Heimatlosen
Die Heimatlosen