Fünfte Vorstellung.

[76] Ich erstaunte nicht wenig, daß der Mühlknecht sprach, wie ich spreche, auch mein Gesicht fast gänzlich angenommen hatte.

Schon wollte ich ihn aufmerksam darauf machen, als er selbst sagte: »Ich weiß nicht – ich komme mir vor, wie Ihr mir vorkommt.«

Wir besahen einander wechselsweise mit und ohne Spiegel, und ich empfand eine große Freude über diese Erscheinung: denn der Mühlknecht schrieb sie der innigen Freundschaft zu, die er zu mir gefaßt.

Ich verwunderte mich übrigens nicht mehr so sehr, als mir die Geschichte einfiel, wo einer, der jahrelang gar oft voll Sehnsucht das blaue Auge seiner Geliebten ansah, nach und nach statt grauer Augen auch schöne himmelblaue erhielt.

Auch fiel mir die Beobachtung ein, daß Eheleute, die lange miteinander leben, endlich einander auch ganz im Gesichte ähnlich werden wie alte, treue Bediente ihren Herren.

Warum könnte, dacht' ich, durch nur zufällig auf einmal eintreffende Erfordernisse, die sonst nur nach Jahr und Tagen sich fanden, und die oft nur sich halb berührten, so was nicht plötzlich und komplett entstehen? Auch dacht' ich, die Sehnsucht,[76] die Liebe, der Wille des Menschen ist ja allgewaltig und hat nicht bei allen, doch bei wenigen Menschen gänzliche Gewalt über alles Leibliche.

Derselbe Wille, Sehnsucht, Liebe hat den Körper gestaltet und gab den verschiedenen Teilen die Richtung wie der Magnet dem Eisenstabe.

Dieselbe Sehnsucht, Liebe wirkt auf das Kind im Leibe der Mutter und gibt ihm, da seine Sehnsucht noch zu schwach ist, einer mächtigern zu widerstehen, das Gesicht der Mutter, des Vaters oder eines Bildes, das die Mutter sehnsüchtig anschaut.

Der Mühlknecht aber sprach weiter: »Eine von den Sagen, deren man sich viele in dieser Stadt erzählt, ist folgende:


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 76-77.
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