Sechste Vorstellung.

[88] Das Kreuz von der Kapelle des Klosters blickte freundlich ins Tal her, und wir bestiegen rüstig den Berg.

Je höher wir kamen, je freier schlug mein Herz, je herrlicher lag die Welt vor uns ausgebreitet.

»Seht nicht mehr hinter Euch,« sprach der Geistliche, »bis wir oben angekommen.«

Es war mir schwer, ihm zu folgen, immer trieb es mich an umzuschauen; denn es war mir, wie wenn ich im Umschauen einem lieben Mädchen ins himmelblaue Auge blicken könnte.

Nun waren wir oben. »Jetzt blickt um Euch«, sprach der Geistliche. Da lag die Welt, vom weiten Himmel umarmt, vor meinen Augen.

Unter mir sangen die Vögel, auf zu mir dufteten die Blumen, und aus spiegelhellen Seen und Flüssen schien die Sonne empor.

Ungewöhnliche Munterkeit ergriff mich, und wild wie ein Knabe tanzte ich über die Gräber des Klosterkirchhofes.

Der Mönch führte mich durch lange Gänge voll heiliger Bilder in seine Zelle; die war ein kleines Stübchen, aus dem man in ein weites Tal voll Dörfer und weidender Herden sah. An den Wänden herum hingen unter Gläsern schöne Sammlungen von Schmetterlingen und andern Insekten; die Fenster aber waren rings mit den lieblichsten Blumen umpflanzt. Der Mönch brachte mir reichlich Erfrischungen und entfernte sich.

Sanft säuselte jetzt der Wind durch die Blumen, die vor dem Fenster standen, und füllte mit süßen Düften die Zelle; lauter und immer lauter aber, wie der Zug des Windes stieg, erklangen die Töne einer Äolsharfe, die, wie ich jetzt erst bemerkte, vor einem Nebenfenster zwischen Blumen stand. So war es, als strömten die Blumen tönende Düfte aus und sängen einander in Wechselchören zu.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 88-89.
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