Nachts

[116] Es schlägt ein Uhr.

Ich ziehe den Vorhang vom Fenster zurück und sehe auf den Hof. Wachsweiß und wie Attrappen stehen die Häuser im Vollmond. Zwischen die Häuser ist mit schwarzer chinesischer Tusche der Himmel gemalt.

Man ahnt einige Sterne. Aber man sieht sie nicht.

Wohnen hinter diesen Kulissen aus Pappe Menschen? Das kann nicht sein. Und wenn es schon Menschen sind, so müssen sie auch aus Pappe sein. Aus Bilderbogen ausgeschnitten. Auf der Vorderseite bunt und schmuck und martialisch. Auf der Rückseite nur leeres weißes Papier. Mit dem Namen der Firma, die sie gedruckt hat, in ganz kleinen Lettern.

Welche Firma ist den Menschen, welche in diesen Häusern wohnen, eingebrannt? Gott? Teufel? Liebe? Geiz? Trunksucht? Mut? Demut?

Ich höre einen Schritt.

Der Schritt klingt ganz für sich. Losgelöst von einem Körper. Er tickt durch die Straßen. Wie eine Uhr.[116]

Der Körper, der zu dem Schritt gehört, weht schattenhaft und durchsichtig drüben an der Hauswand vorbei.

Gute Nacht, Gespenst!

Wo kommst du her? Du mußt dich beeilen, wenn du deinen Schritt noch einholen willst. Der ist dir schon weit voraus und läuft dir sonst davon.

Ein höfliches Gespenst.

Es grüßt den Mond.

Ich denke an ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Li-tai-pe:

In der Blütenlaube von Jasmin sitz ich beim Weine.

Gute Genossen heischt die gute Stunde.

Da steigt der Mond übern First; verneigt sich mit goldenem Scheine –

Höflich verneige auch ich mich, und mein Schatten verneigt sich als Dritter im Bunde ...

Hast du überhaupt einen Schatten, Gespenst?

Ja, du hast einen Schatten. Du zeigst ihn ängstlich vor, wie eine Legitimation: glaubt mir – ich bin ein Mensch.

Ja, wir glauben dir. Du bist ein Mensch. Du bist ein ehrenwertes Gespenst. Ein Gespenst mit Schatten. Ein Gespenst, vor dem sich niemand zu fürchten braucht.

Ich habe aber Grund, anzunehmen, daß du dich fürchtest.[117]

Wovor? Vor anderen Gespenstern? Vor jenen Gespenstern ohne Schatten? Welche weder in Sonne noch Mond einen Schatten werfen?

Kamst du aus dem Kriege?

Kannst du nicht schlafen: weil die Granaten in deinem Kopfe zischen? Die Maschinengewehre trommeln? Wilde Münder Wut, Erbarmen, Schmerz und Jubel brüllen?

Ich bin so müde, daß mir bald die Augen zufallen und daß ich bald an kein Gespenst mehr glaube. Aber ich muß noch wissen, wer du bist.

Du stehst nun in der Mitte der Straße. Wie aus grauem Glas. Du hast einen Stab in den Händen und führst ihn hin und her.

Bist du der Mann mit der Wünschelrute und suchst du nachts, wenn dich niemand stört, nach Wasser unter dem Pflaster? Aber wir haben genug Wasser hier in München. Wir haben eine vorzügliche Wasserleitung. Das Wasser ist stark eisenhaltig.

Ach: du bist der Straßenkehrer ...

Du fegst die Straßen blank, damit der junge Tag sich nicht gleich seine neuen Schuh beschmutzt.

Du tust etwas. Während ich wieder einmal nur denke, daß du etwas tust.

Aber du darfst mir nicht übel nehmen, daß ich über dich nachdenke.[118]

Ich wohne in einem jener Häuser, die wie Attrappen im Mondlicht stehen. Du siehst das Haus und sagst dir: da wohnen die reichen Leute, welche den lieben langen Tag und die liebe lange Nacht nichts tun.

Und damit hast du ein wenig Recht: ich tue den lieben langen Tag und die liebe lange Nacht nichts. Rein garnichts.

Ich denke nur. Weil du nämlich keine Zeit zum Denken hast, so besorge ich das für dich mit. Und weil ich keine Zeit zum tun habe, so tust du etwas für mich. Gutes oder Schlechtes: was du auch immer für mich tust: habe Dank.

Der Mond steigt über den Giebel.

Eine Katze jault.

Das Gespenst fegt unermüdlich die Straße.

Ich will schlafen gehn. Ich ziehe den Vorhang zu.

Es schlägt zwei Uhr.[119]

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 116-120.
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