Der Stielitz

[69] Ein Stieglitz, namens Lehmann, hatte das für Tiere seiner Art greisenhafte Alter von 11 Jahren erreicht. Soviel er um sich sah in seiner Bekanntschaft: nirgends lebte ein Stieglitz solchen Alters und solcher Vorgeschrittenheit. Müller, Maier, Huber – sie alle zählten 5, 6, 7, höchstens 8 Jahre. Maier, der nur 8 Jahre zählte, war neulich zum Ehrengreis von Berlin ernannt worden, und die Veteranen und Feuerwehrvereine waren in seiner Wohnung in der Halleschen Straße erschienen, hatten gesungen: »Freude, schöner Götterfunken«, und sich mit Weißbier die Schnäbel begossen. Er, Lehmann, lebte gänzlich zurückgezogen in einer kleinen märkischen Stadt, wo nur das Intelligenzblatt zuweilen meldete: »Unser allverehrter Mitbürger, Herr Lehmann, lebt immer noch.« War das nun eine Ehre? Überhaupt, lohnte dieses Leben noch, gelebt zu werden? Hat die heutige schnellebige[69] Zeit jeden Respekt vor dem Alter eingebüßt?

Lehmann bestieg die Eisenbahn und fuhr nach Berlin. Dort angekommen, betrat er ein Anzeigenbureau und ließ in sämtliche Abendzeitungen folgendes riesige Inserat setzen: »Lehmann wird morgen 11 Jahre alt: Ein Hoch dem wackeren Stieglitz! Es lebe der Greis!« Diese Anzeige hatte nicht die richtige Wirkung. Lehmann wurde gar nicht berühmt, wie er sich das gedacht hatte; vielmehr bekam er (ungerechterweise) ein Mandat wegen groben Unfugs und die Einladung zum Eintritt in einen Begräbnisklub. Dieser Klub hatte den humanen Zweck, seine Mitglieder, falls gestorben, ehrenhaft, solide und mit einem gewissen Pomp zu begraben. Lehmann, enttäuscht, begab sich zu Aschinger und trank eine Flasche französischen Sekt. Schwermütig hüpfte der Greis durch den duftenden Tiergarten, Liebespaare wandelten umschlungen, die Sonne strahlte vom Firmament und brannte Lehmann auf die Glatze. Lehmann trat[70] auf zwei Polizisten zu: »Lehmann ist mein Name.« Die Polizisten bekamen tellergroße Augen. »Sofort zur Wache«, schäumten die blauen Wogen ihrer Uniform. Lehmann weinte bitterlich. Der schöne Frühling! Auf der Wache wurden Lehmann die Taschen durchsucht. Darauf wurde er photographiert, Profil und von vorne und hinten. »Sie stehen nunmehr im Verbrecheralbum. Schämen Sie sich!« sagte der Wachtmeister. Darauf wurde Lehmann wieder entlassen.

Lehmann strahlte: so bin ich für die Nachwelt bewahrt. So oder so. Die Treue ist doch kein Oberlehrer-Wahn. Verbrechen und Ruhm sind gleicherweise (philosophisch) fundiert. Lehmann erinnerte sich, daß er noch bei Simmel Vorlesungen gehört hatte. Was hatte Simmel immer gesagt: Jedes Wesen hat die Vorstellung der Welt, die es braucht. Der Lachs hat die Weltanschauung des Lachses, der Adler die des Adlers. So brauchte also auch er, Lehmann, nur die Weltanschauung eines Lehmann zu haben.[71] Betroffen und befriedigt flog Lehmann auf einen eben ergrünten Kastanienbaum. Schwer ward es ihm mit seinen 11 Jahren, aber es ging; Vermessenheit war es von ihm gewesen, die traute Heimat zu verlassen und in der Großstadt nach Irrlichtern zu jagen. Wenn er etwas ausgeruht hatte, wollte er mit dem nächsten Zug wieder in die Kleinstadt zurückkehren. Er nickte mit dem Kopf und entschlief.

Ein Knabe mit dem Pusterohr, der ihn beobachtete und heute ebenfalls (wie Lehmann) Geburtstag hatte – daher das Pusterohr –, drehte sich aus Papier eine Kugel und schoß nach ihm. Lehmann in seinem Schwächezustand fiel getroffen vom Ast zu Boden. Er starb, ehe er wieder zu sich kam, betagt und hochgeachtet. Die Papierkugel, die ihn tödlich traf, war aus jener Anzeige gemacht, die Lehmann tags zuvor aufgegeben hatte.

Man soll niemals etwas Schriftliches von sich geben. Es diskreditiert immer, besonders wenn es nachher gedruckt wird.[72]

Quelle:
Klabund: Kunterbuntergang des Abendlandes. München 1922, S. 69-73.
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