Das Gespenst

[155] Die Sonne sank in Thetis Purpurschooß;

Die Wolken blitzten vom Rubine,

Ein Bach, der wie geschmolzen Silber floß,

Zog mich ins überguldte Grüne;

Ich hörte dort in stolzer Ruh

Der Büsche hellen Kehlen zu.


Das Abendlied der holden Nachtigall

Ward durch der Wachtel Schlag begleitet,

Und ich gemach von diesem Freudenschall

Zum süßen Schlummer zubereitet.

Ich schlummerte und hörte doch,

Und dreymal schlug die Wachtel noch.


Drauf schlief ich ein. Es schreckte mich ein Traum,

Mir däucht, ich sähe durch die Sträuche

Ein weiß Gespenst am braun gewordnen Baum.

Das Haar erhebt sich; ich entweiche.

Ein Ast, der mich zu Boden reißt,

Erweckt mich, und ich seh den Geist.


Mein Blick war wild; ich sprang vom Lager auf:

Allein der Geist rief mir geschwinde:

O Seladon! Schatz! hemme deinen Lauf,

Wen scheuest du? Ich bin Philinde.

Kaum hatt ich meinen Blick gewandt:

So fühlt ich ihre sanfte Hand.


Wie, wem die Luft in wilder Fluth entgeht,

Die wallend ihm im Schlunde wühlet,

Wenn itzt sein Fuß auf festem Grunde steht,

Sich endlich träufelnd wieder fühlet:[155]

So ward ich meiner selbst bewußt:

Die Zentnerlast fiel von der Brust.


Ein Kuß, den mir Philinde zärtlich gab,

Erhitzte bald die starren Glieder.

Und wischten wir oft Florens Thränen ab:

So kühlte Zephirs Lispeln wieder,

Das in des Geistes Locken stieß,

Der sich so reizend greifen ließ.


O Sternenheer! o Mond! o Silberlicht!

Ihr hellen Zeugen meiner Freuden,

Euch kommen oft Gespenster zu Gesicht,

Führt sie zu mir; ich mag sie leiden.

Ja, möcht es heute noch geschehn,

Wie froh wollt ich sie kommen sehn.


Quelle:
Ewald Christian von Kleist: Sämtliche Werke. Stuttgart 1971, S. 155-156.
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