Achtzehnter Auftritt

[338] Ventidius innerhalb des Gitters. Thusnelda und Gertrud. – Nachher Childerich, der Zwingerwärter.


VENTIDIUS mit Entsetzen.

Zeus, du, der Götter und der Menschen Vater!

Was für ein Höllen-Ungetüm erblick ich?

THUSNELDA durch das Gitter.

Was gibt's, Ventidius? Was erschreckt dich so?

VENTIDIUS.

Die zottelschwarze Bärin von Cheruska,

Steht, mit gezückten Tatzen, neben mir!

GERTRUD in die Szene eilend.

Du Furie, gräßlicher, als Worte sagen –!

– He, Childerich! Herbei! Der Zwingerwärter!

THUSNELDA.

Die Bärin von Cheruska?

GERTRUD.

Childrich! Childrich!

THUSNELDA.

Thusnelda, bist du klug, die Fürstin ist's,

Von deren Haupt, der Livia zur Probe,

Du jüngst die seidne Locke abgelöst!

Laß den Moment, dir günstig, nicht entschlüpfen,

Und ganz die Stirn jetzt schmeichelnd scher ihr ab![338]

VENTIDIUS.

Zeus, du, der Götter und der Menschen Vater,

Sie bäumt sich auf, es ist um mich geschehn!

CHILDERICH tritt auf.

Ihr Rasenden! Was gibt's? Was machtet ihr?

Wen ließt ihr in den Zwinger ein, sagt an?

GERTRUD.

Ventidius, Childrich, Roms Legat, ist es!

Errett ihn, bester aller Menschenkinder,

Eröffn den Pfortenring und mach ihn frei!

CHILDERICH.

Ventidius, der Legat? Ihr heil'gen Götter!


Er bemüht sich das Gitter zu öffnen.


THUSNELDA durch das Gitter.

Ach, wie die Borsten, Liebster, schwarz und starr,

Der Livia, deiner Kaiserin, werden stehn,

Wenn sie um ihren Nacken niederfallen!

Statthalter von Cheruska, grüß ich dich!

Das ist der mindste Lohn, du treuer Knecht,

Der dich für die Gefälligkeit erwartet!

VENTIDIUS.

Zeus, du, der Götter und der Menschen Vater,

Sie schlägt die Klaun in meine weiche Brust!

THUSNELDA.

Thusneld? O was!

CHILDERICH.

Wo ist der Schlüssel, Gertrud?

GERTRUD.

Der Schlüssel, Gott des Himmels, steckt er nicht?

CHILDERICH.

Der Schlüssel, nein!

GERTRUD.

Er wird am Boden liegen.

– Das Ungeheur! Sie hält ihn in der Hand.


Auf Thusnelda deutend.


VENTIDIUS schmerzvoll.

Weh mir! Weh mir!

GERTRUD zu Childerich.

Reiß ihr das Werkzeug weg!

THUSNELDA.

Sie sträubt sich dir?

CHILDERICH da Thusnelda den Schlüssel verbirgt.

Wie, meine Königin?

GERTRUD.

Reiß ihr das Werkzeug, Childerich, hinweg!


Sie bemühen sich, ihr den Schlüssel zu entwinden.


VENTIDIUS.

Ach! O des Jammers! Weh mir! O Thusnelda![339]

THUSNELDA.

Sag ihr, daß du sie liebst, Ventidius,

So hält sie still und schenkt die Locken dir!


Sie wirft den Schlüssel weg und fällt in Ohnmacht.


GERTRUD.

Die Gräßliche! – Ihr ew'gen Himmelsmächte!

Da fällt sie sinnberaubt mir in den Arm!


Sie läßt die Fürstin auf einen Sitz nieder.


Quelle:
Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1978, S. 338-340.
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