Eilfte Nachtwache

[134] Folgendes ist ein Bruchstück aus der Geschichte des Unbekannten im Mantel. Ich liebe das Selbst – drum mag er selbst reden!

»Was ist denn die Sonne?« fragte ich eines Tages meine Mutter, als sie den Sonnenaufgang von einem Berge beschrieb. »Armer Knabe, du verstehst es nimmer, du bist blind geboren!« antwortete sie gerührt und fuhr sanft mit der Hand über meine Stirn und meine Augen.

Ich glühete – die Beschreibung hatte mich entzückt; zwischen den Menschen und meiner Liebe zu ihnen lag eine Scheidewand – wenn ich die Sonne nur einmal erblicken könnte, glaubte ich, würde sie schwinden und ich mich eines nähern Umgangs mit meiner Mutter erfreuen dürfen. –

Meine Phantasie arbeitete von jezt an heftig, der sehnsuchtsvolle Geist strebte gewaltsam den Körper zu durchbrechen und in das Licht zu schauen. Dort lag das Land meiner Ahnung, das Italien voll Wunder der Natur und Kunst.

Sie sprachen viel von Nacht und Tag, für mich gab es nur eins, einen ewigen Tag, oder eine ewige Nacht – sie meinten es sei die letztere! –[134]

Ich saß in meinem Dunkel, und die wunderbare große Welt ging in meinem Geiste auf, aber die Beleuchtung fehlte, und ich stieg nun an dem Leben herum, wie an einem himmelhohen Felsen, mit verbundenen Augen; ich fühlte die seidene Wange der Blume, trank ihren Duft – aber ich träumte, die Blume selbst sei unendlich schöner als ihr Duft und ihre seidene Wange.

Ein lebhafter wunderbarer Traum ließ mich in einer Nacht das Licht erblicken, und es war es wahrlich; aber als ich erwachte, bemühete ich mich vergeblich den Traum wieder hervorzurufen.

Um diese Zeit stieg die Musik wie ein lieblicher Genius in meinen dunkeln Kerker, und schlang um ihre Saiten die zarten Blumenkränze der Poesie. Es war heiliger Boden den ich jetzt betrat – das erste Italien meiner Sehnsucht.

Der Engel der zwischen den beiden Musen wandelte und sie mir zuführte, war ein Mädchen, die himmlische Madonna hatte ihm ihren irdischen Namen hinterlassen. – Maria war mit mir von gleichem Alter, und sie entzückte den blinden Knaben durch ihre Lieder und Töne, und rief die Liebe und die Hoffnung aus ihren Träumen auf, daß sie zum erstenmale hell um sich schauten, und als die beiden schönsten Vestalen in das Leben traten.

Marie war eine elternlose Waise, und meine Mutter hatte, als sie sie zu sich nahm, ein feierliches Gelübde geleistet, das Kind dem Himmel zu weihen, wenn ich jemals das Licht erblicken würde. Jezt sehnte ich mich wieder[135] nach der Sonne, denn sie entführte mir Marie und ihre Gesänge.

Bald darauf hörte ich öfter von einem Arzte reden, von dessen Kunst man sich viel zu meinem Vortheile versprach. – Ich wankte zwischen entgegengesetzten Gefühlen – die Liebe zur Sonne und zu Marie war gleich heftig in meiner Seele. Fast mit Gewalt mußte man mich dem Arzte entgegenführen. –

Er gebot mir Ruhe – und meine Brust hob sich stürmischer. Ich stand an den Pforten des Lebens, gleichsam um zum zweitenmale geboren zu werden. Jetzt empfand ich einen heftigen Schmerz an meinen Augen; ich schrie auf, denn mein Traum kehrte zu mir zurük – ich sah Licht! – Tausend blizende Strahlen und Funken – ein rascher Blick in den reichsten Schaz des Lebens.

Die vorige Nacht umgab mich dann wieder. Es war eine Binde um meine Augen gelegt, und ich durfte erst nach und nach in die neue Welt eingehen.

Nichts von den Zwischenräumen – man zeigte mir nur wenige Gegenstände, und kein lebendiges Wesen, außer dem Arzte, nahte sich mir, bis dieser mich endlich für stark genug hielt das Größeste zu ertragen.

Er führte mich in die Nacht hinaus, über meinem Haupte in der unermeßlichen Ferne brannten die Sternbilder, und ich stand unter den tausend Welten wie ein Trunkener, Gott ahnend, ohne seinen Namen auszusprechen. – Vor mir ragten die alten Ruinen einer vorigenErde, die Berge, finster und rauh in die Nacht empor, ein mattes Wetterleuchten aus wolkenloser Luft spielte um ihre Häupter. Wälder ruhten tief und verhüllt zu ihren Füßen und schüttelten nur leise ihre schwarzen Wipfel. Der Arzt stand ernst und still neben mir – einige Schritte weiter regte es sich wie eine verschleierte Gestalt. –

Ich betete! –

Plötzlich veränderte sich die Szene; über die Berge schienen Geister heraufzuziehen, und die Sterne erblaßten wie vor Schrecken, und hinter mir deckte sich ein weiter Spiegel auf – das Weltmeer. –

Ich bebte, denn ich glaubte Gott nahe sich.

Und auf die Erde drückten sich die Nebel und verhüllten sie sanft – aber am Himmel zogen die Geister mächtiger heran, und wie die Sterne verlöschten, flogen goldene Rosen über die Berge empor in den blauen Himmel, und ein zauberischer Frühling blühete in der Luft – immer mächtiger und mächtiger – jetzt wogte ein ganzes Meer herüber, und Flamme auf Flamme brannte in die Himmelsfluthen.

Da stieg über den Fichtenwald, in tausend Strahlen wiederleuchend, wie eine entzündete Welt die ewige Sonne empor!

Ich schlug beide Hände vor die Augen, und stürzte zu Boden.[138]

Als ich wieder erwachte, da schwebte der Gott der Erde in den Lüften, und die Braut hatte alle ihre Schleier zerrissen, und enthüllte ihre höchsten Reize dem Auge des Gottes. –

Überall war Heiligthum – der Frühling lag wie ein süßer Traum an den Bergen und auf den Fluren – die Sterne des Himmels brannten als Blumen in dem dunkeln Grase, aus tausend Quellen stürzte das Lichtmeer herab in die Schöpfung, und die Farben stiegen darin wie wunderbare Geister auf. Ein All von Liebe und Leben – rothe Früchte und blühende Kränze in den Bäumen, und duftende Gewinde um Hügel und Berge – in den Trauben brennende Diamanten – die Schmetterlinge als fliegende gaukelnde Blumen in den Lüften – Gesang aus tausend Kehlen, schmetternd, jubelnd, lobpreisend – und das Auge Gottes aus dem unendlichen Weltmeere zurükschauend und aus der Perle im Blumenkelche.

Ich wagte den Ewigen zu denken!

Plözlich rauschte es hinter mir – neue Schleier fielen von dem Leben – ich schaute rasch zurük und sahe – ach zum erstenmale! das weinende Auge der Mutter!

O Nacht, Nacht, kehre zurük! Ich ertrage all das Licht und die Liebe nicht länger![139]

Quelle:
August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. Frankfurt a.M. 1974, S. 134-140.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Nachtwachen des Bonaventura
Die Nachtwachen des Bonaventura