Friedrich Gottlieb Klopstock

Gedanken

über die Natur der Poesie

Es sind so wenige, die sich einen rechten Begriff von dem machen, was eigentlich die Poesie ist, daß ich glaube, daß es für die meisten von ihren Liebhabern nicht überflüssig sein wird, folgende zerstreute Gedanken darüber zu lesen. Ich habe bei weitem nicht alles darüber, und ich habe dies wenige auf keine Art systematisch sagen wollen, um sie durch die Idee einer langen Abhandlung nicht abzuschrecken.

Man hat viele überflüssige Regeln der Poesie gegeben, und bis zum Ekel wiederholt. Man hat viele von den notwendigsten noch nicht gegeben. Wenn man eine vollständige Poetik, ohne sie durch Beispiele praktisch zu machen, schreiben wollte: so hätte man nur wenig Blätter dazu nötig, und man würde gleichwohl noch viel Neues sagen können.

In einer Poetik vom Epigramma handeln, wäre eben das, als wenn man in einer Rhetorik von Bonmots handeln wollte; obgleich ein Bonmot bisweilen mehr als eine ganze lange Rede wert sein kann.

Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.

Wenn man mir einwirft, daß dies eine Definition der höhern Poesie sei; so antworte ich, daß die angenehme Poesie vieles von diesem allen tun müsse, wenn sie nicht den Namen einer versifizierten Prosa verdienen will.

Ich sage: Eine gewisse Anzahl von Gegenständen. Weil es einige gibt, die, für die Poesie, in jedem Gesichtspunkte betrachtet, unbrauchbar sind. Unterdes da einige bloß durch den Gesichtspunkt, in dem sie von den meisten angesehen werden, ihre Wirkung verloren haben; so kann sie der Poet oft in einem bessern zeigen. Nur ein verzärtelter Geschmack liebt diese Wiederherstellung nicht.

Deren Dasein wir vermuten. Wenn man der Poesie engere[992] Grenzen setzen wollte; so müßte man ihr keine Erdichtungen erlauben.

Von einer Seite zeigt. Nicht wenige Objekte haben sogar nur einen Gesichtspunkt, in welchem sie die Poesie zeigen darf.

Beschäftigt. Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt. Überhaupt ist uns Aktion zu unserm Vergnügen wesentlich. Gemeine Dichter wollen, daß wir mit ihnen ein Pflanzenleben führen sollen.

Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: »Wenn du willst, daß ich weinen soll; so mußt du selbst betrübt gewesen sein!« ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! der ahmt also sich selbst nach?

Wenn der Ausdruck dem Gedanken ebenso angemessen ist, als der Gedanke dem Gegenstande, und dieser nicht allein gut gewählt, sondern auch in einem vorzüglich gefallenden Gesichtspunkte angesehn worden ist; so hat der Dichter allen Foderungen, die man ihm tun kann, genug getan.

Der Gegenstand ist gut gewählt, wenn er gewisse durch die Erfahrung bestätigte starke Wirkungen auf unsre Seele hat.

Er wird in einem vorzüglich gefallenden Gesichtspunkte angesehen, wenn dieser die vorher angeführte Wirkung mehr als die andern hervorbringt, in welchem der Gegenstand auch angesehen werden könnte.

Der Gedanke ist dem Gegenstande angemessen, wenn es scheint, als ob man keinen bessern dabei haben könnte; wenn er nicht da bloß Betrachtung bleibt, wo er Leidenschaft hätte werden sollen; wenn er überhaupt ein so genaues Verhältnis zu[993] dem Gegenstande hat, als das Verhältnis zwischen Ursach und Wirkung ist.

Der Ausdruck ist dem Gedanken angemessen, wenn er dem Leser besonders dadurch gefällt, daß er völlig bestimmt sagt, was wir haben sagen wollen. Er ist ein Schatten, der sich mit dem Baume bewegt.

Es gibt eine Anordnung des Plans eines Gedichts, die einem Gebäude gleichet; und sie sollte einer schönen Gegend gleichen. Der Poet ist kein Baumeister; er ist ein Maler. Ich nenne ihn hier in einem andern Verstande einen Maler, als man diesen Ausdruck gewöhnlich nimmt. Ich rede von ihm, als von dem Zeichner seines Grundrisses. Wie wenig Kunst gehört dazu, eine gewisse Symmetrie gerader Linien zu machen. Durch die Zusammensetzung krummer Linien Schönheit hervorzubringen, erfodert eine andre Meisterhand.

Man sagt, daß die Epopee alle Schönheiten der Poesie vereinige. Es wäre also überflüssig, von ihr insbesondere zu reden, wenn man eine Poetik schriebe. Mich deucht, jener Satz ist nur alsdann wahr, wenn man ihn auf die Schönheiten der höhern Poesie einschränkt; und ferner den Hauptton bestimmt, der die Epopee von den übrigen Arten der höhern Poesie unterscheidet.

Den Sieger schützten die Götter; die Überwundenen Cato!

Ist das erhabenste Epigramma, das man machen kann. Es müßte »Cato und die Götter« darüberstehn. Man könnte eine nicht zu kleine Sammlung Epigrammata aus der Henriade machen.

Die Materie und die Ausführung verhalten sich gegeneinander, wie das Original, und das Porträt. Man erlaubt dem guten Maler gewisse kleine Abweichungen, gewisse feine Verschönerungen; aber man will erkennen, wer gemalt ist. Die besten neuern tragischen Dichter haben oft zwar Kabinettstücke, aber keine Porträts gemacht, wenn sie ihre Materie aus der alten Geschichte genommen haben.

Der Hauptton eines Gedichts besteht nicht allein in der Art und dem Grade der Schönheiten, die einer gewissen Dichtart vorzüglich eigen sind, sondern es kömmt auch sehr darauf an, daß die gewählten Objekte von Seiten gezeigt werden, die mit dieser Art und diesem Grade der Schönheiten harmonieren.[994] Man nehme an, daß, in einem Gedichte vom Landleben, eine schöne Gegend beschrieben werde; und dann, daß ein lyrischer Dichter, in einem Lobe der Gottheit, sich mit einer ähnlichen Beschreibung beschäftige: werden sie nicht sehr verschieden sein müssen? Jener muß fürs erste in dem Tone des Lehrgedichts schreiben, und dann seine Objekte in einem Gesichtspunkte betrachten, die den Eindruck einer sanften Freude auf uns machen. Der lyrische Dichter muß sowohl dadurch, daß er dem Tone der Ode gemäß singt, als auch dadurch, daß er die schöne Gegend, als ein Werk des Allmächtigen vorstellt, uns entzücken. Fast allen neuern Oden fehlt etwas von dem Haupttone, den die Ode haben soll. Ich gestehe zu, daß ich unrecht habe, wenn folgende Anmerkung falsch ist.

Horaz hat den Hauptton der Ode, ich sage nicht des Hymnus, durch die seinigen, bis auf jede seiner feinsten Wendungen, bestimmt. Er erschöpft alle Schönheiten, deren die Ode fähig ist. Man wird also den Wert einer Ode am besten ausmachen können, wenn man sich fragt: Würde Horaz diese Materie so ausgeführt haben? Aber man müßte ein wenig streng bei Beantwortung dieser Frage sein. Denn sonst bekommen wir zu viel Horaze unsrer Zeiten.

Ich erkläre mich hierdurch gar nicht gegen die Ansprüche, die besonders der lyrische Dichter auf einen Originalcharakter hat. Ich rede nur von der Biegsamkeit, mit der sich selbst ein Originalgenie dem Wesentlichen, was die lyrische Poesie fodert, unterwerfen muß. Und dieses Wesentliche, behaupte ich, hat Horaz, durch seine Muster, festgesetzt.

Es ist nichts gewöhnlicher, als daß man den Ausdruck mit dem Gedanken verwechselt. Man sagt: Es ist eben der Gedanke; es ist nur ein andrer Ausdruck. Und der Gedanke wird doch geändert, sobald der Ausdruck geändert wird. Dieser ist an sich selbst weiter nichts, als das Zeichen des Gedanken. Gleichwohl muß eine genaue Kenntnis aller Bestimmungen dieser Zeichen, die sie haben, und durch gewisse neue Stellungen haben können, zu erlangen, eine von den vornehmsten Beschäftigungen eines guten Dichters und eines Lesers sein, der sich nicht zu viel schmeicheln will, wenn er seine Urteile für entscheidend[995] hält. Wenn eine Sprache gebildet ist; so ist eine vollständige Kenntnis derselben einer von den weitläufigsten Teilen der schönen Gelehrsamkeit.

Es kann niemand drei kurze Silben hintereinander aussprechen, ohne auf eine gezwungne Art zu eilen.

Das Esse videatur [– ñ ñ ñ– ñ] des Cicero kann so, wie es gezeichnet ist, nicht ausgesprochen werden. Entweder müßte man das e in esse beinahe gar nicht hörenlassen, welches hart sein würde; oder man muß auf das vi einen gewissen Ton legen, der es zu einer langen Silbe macht. Es sind daher eigentlich nur sechs verschiedne Füße, auf deren guten Zusammensetzung die ganze Harmonie der Prosa und der Poesie beruht. Ich verstehe durch einen Fuß so viele Silben, als das Ohr auf einmal miteinander vergleicht. Es vergleicht eine lange mit der andern langen, indem es hört: Schutzgeist [––]. Es vergleicht die lange mit ihrer Hälfte, der kurzen, auf zweierlei Art, entweder so: Gestalt [ ñ–], oder so: Freudig [– ñ]; es vergleicht die lange mit zwo kurzen und dies auf dreierlei Art, als: ewige [– ñ ñ], oder: unerhört [ ñ ñ–], oder auch: Geliebte [– ñ–]. Diese letzte Art ist nicht so gut, als die übrigen fünfe. Denn der Umstand, daß die lange Silbe in der Mitte steht, macht, daß die Vergleichung dem Ohre etwas schwerer wird. Eine gewisse Reihe von Worten kann aus keinen andern, als den angeführten Füßen bestehn, wenn sie harmonisch sein soll. Die Prosa ist deswegen nicht so wohlklingend als die Poesie, weil sie diese angeführten Worte nicht nach einer so feinen Regel der Harmonie ordnet, als die guten Versarten tun. Wenn sie nun aber vollends zu viele kurze Silben (und drei sind schon zu viel) hintereinander setzt; so macht sie dadurch einen besondern Übelklang, daß man gezwungen ist, einige von diesen kurzen Silben, als lange auszusprechen, und also dem Silbenmaße eine Gewalt anzutun, bei welchem die Harmonie immer verliert. Die deutsche Sprache hat zwar hier einigen Vorteil, weil sie viele gleichgültige Silben hat, ich meine diejenigen, welche bald kurz bald lang gebraucht werden können; aber gleichwohl hilft dieser Umstand demjenigen nicht viel, der zu viele kurze Silben häuft. Will man zum Exempel diese Worte:


Verkündige die unerhörte Tat
[996]

[ ñ– ñ ñ ñ ñ ñ ñ ñ –]


nach dem Silbenmaße aussprechen; so wird man so sehr eilen müssen, daß man nicht verstanden werden kann. Man muß sie daher so aussprechen:


Verkündige die unerhörte Tat


[ ñ– ñ ñ – ñ ñ ñ ñ –]


Aber wie wird hier das Ohr durch die Länge des die [–] beleidigt. Doch der Wohlklang entsteht nicht allein durch die Verbindung der langen und kurzen Silben; es kömmt auch sehr auf die Wahl harmonischer Wörter an. Eine gewisse Anzahl Wörter wird durch ihren Übelklang unbrauchbar. Unterdes muß man dieses auch nicht zu weit treiben. Die deutsche Sprache muß von Ohren, die an sie gewöhnt sind, beurteilt werden. Wenigstens müssen die Italiener, die zu viele Vokalen haben, nicht ihre Richter sein. Wer sich auf die Aussprache versteht, kann das Harte der vielen Konsonanten, durch eine gewisse mäßigende Leisigkeit sanfter machen; ein Vorteil, den die Italiener in Absicht auf ihre zu vielen Vokalen nicht haben. Und wie wollen sie es machen, der Weichlichkeit ihrer Aussprache, und die Franzosen der Flüchtigkeit, mit welcher sie sprechen, Konsistenz und Nerven zu geben?

Ich irre mich entweder sehr, oder es ist mindstens ein sehr verzeihbares Vorurteil, wenn ich dafür halte, daß die deutsche Sprache vor allen neuern Sprachen alsdann die größten Ansprüche auf die meisten Arten des Wohlklangs hat; wenn diejenigen, die sie schreiben, sorgfältig genug sind, gewisse unharmonische Wörter gar nicht zu brauchen, eine Sorgfalt, die sogar Homer und Virgil nötig hatten.[997]

Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 992-998.
Erstdruck in: Der Nordische Aufseher (Kopenhagen), 2. Bd., 105. Stück 1759.
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