An Giseke

[23] Geh! ich reisse mich los, obgleich die männliche Tugend

Nicht die Thräne verbeut,

Geh! ich weine nicht, Freund. Ich müsste mein Leben durchweinen,

Weint' ich dir, Giseke, nach!

Denn so werden sie alle dahin gehn, jeder den andern

Traurend verlassen, und fliehn.

Also trennet der Tod gewählte Gatten! der Mann kam

Seufzend im Ozean um,

Sie am Gestad, wo von Todtengeripp, und Scheiter, und Meersand

Stürme das Grab ihr erhöhn.

So liegt Miltons Gebein von Homers Gebeine gesondert,

Und der Zypresse verweht

Ihre Klag' an dem Grabe des Einen, und komt nicht hinüber

Nach des Anderen Gruft.[24]

So schrieb unser aller Verhängniss auf eherne Tafeln

Der im Himmel, und schwieg.

Was der Hocherhabene schrieb, verehr' ich in Staube,

Weine gen Himmel nicht auf.

Geh, mein Theurer! Es letzen vielleicht sich unsere Freunde

Auch ohne Thränen mit dir;

Wenn nicht Thränen die Seele vergiesst, unweinbar dem Fremdling

Sanftes edles Gefühls.

Eile zu Hagedorn hin, und hast du genung ihn umarmet,

Ist die erste Begier,

Euch zu sehen, gestillt, sind alle Thränen der Freude

Weggelächelt entflohn,

Giseke, sag' ihm alsdann, nach drey genossenen Tagen,

Dass ich ihn liebe, wie du!


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 1, Leipzig 1798, S. 23-25.
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