Das Anschaun Gottes

[152] Zitternd freu ich mich,

Und würd' es nicht glauben;

Wäre der grosse Verheisser

Nicht der Ewige!


Denn ich weiss es, ich fühl es:

Ich bin ein Sünder!

Wüsst' es, und fühlt' es,

Wenn auch das Gotteslicht


Heller mir meine Flecken nicht zeigte;

Vor meinen weiseren Blicken

Nicht enthüllte

Meiner verwundeten Seele Gestalt.


Mit gesunkenem Knie,

Mit tiefanbetendem Staunen,

Freu ich mich!

Ich werde Gott schaun!
[153]

Forsch ihm nach, dem göttlichsten Gedanken,

Den du zu denken vermagst,

O die du näher stets des Leibes Grabe,

Aber ewig bist!


Nicht, dass du wagtest,

Zu gehn in das Allerheiligste!

Viel unüberdachte, nie gepriesene, nie gefeyerte,

Himlische Gnaden sind in dem Heiligthume.


Aus der Ferne nur, nur Einen gemilderten Schimmer,

Damit ich nicht sterbe!

Einen für mich durch Erdenacht gemilderten Schimmer

Deiner Herlichkeit seh ich.


Wie gross war der, der beten durfte:

Hab' ich Gnade vor dir gefunden, so lass mich

Deine Herlichkeit sehn!

So zum Unendlichen beten durft', und erhört ward!


In das Land des Golgatha kam er nicht!

An ihm rächt' es ein früherer Tod;

Dass er Einmal, nur Einmal Gott nicht traute!

Wie gross zeiget ihn selbst die Strafe!
[154]

Ihn verbarg der Vater in eine Nacht des Berges,

Als vor dem Endlichen vorüberging des Sohnes Herlichkeit!

Als die Posaun' auf Sinai schwieg,

Und die Stimme der Donner! als Gott von Gott sprach!


Uneingehüllt durch Nacht,

In eines Tages Lichte,

Das keine Schatten sichtbarer machen,

Schauet er nun, so halten wirs, Jahrhunderte schon;


Ausser den Schranken der Zeit,

Ohn' Empfindung des Augenblicks,

Dem der Augenblick folgt, schauet er nun

Deine Herlichkeit, Heiliger! Heiliger! Heiliger!


Namloseste Wonne meiner Seele,

Gedanke des künftigen Schauns!

Du bist meine grosse Zuversicht,

Du bist der Fels, auf dem ich steh, und gen Himmel schaue;


Wenn die Schrecken der Sünde,

Des Todes Schrecken

Fürchterlich drohn,

Mich niederzustürzen!
[155]

Auf diesem Felsen, o du,

Den nun die Todten Gottes schaun,

Lass mich stehn, wenn die Allmacht

Des unbezwingbaren Todes mich ringsum einschliesst.


Erheb', o meine Seele, dich über die Sterblichkeit,

Blick auf, und schau; und du wirst strahlenvoll

Des Vaters Klarheit.

In Jesus Christus Antlitz schaun!


Hosianna! Hosianna! die Fülle der Gottheit

Wohnt in dem Menschen Jesus Christus!

Kaum schallet der Cherubim Harfe noch, sie bebt!

Kaum tönet ihre Stimme noch, sie zittert, sie zittert!


Hosianna! Hosianna!

Die Fülle der Gottheit

Wohnt in dem Menschen

Jesus Christus!


Selbst damals, da einer der Gottesstrahlen auf unsere Welt,

Jene Blutweissagung heller leuchtet', erfüllt ward,

Da er verachtet, und elend war,

Als kein anderer Mensch verachtet, und elend war;
[156]

Erblickten die Sterblichen nicht,

Aber die Cherubim,

Des Vaters Klarheit

In dem Angesichte des Sohns!


Ich seh, ich sehe den Zeugen!

Sieben entsetzliche Mitternächte

Hatt' er gezweifelt' mit der Schmerzen bängsten

Anbetend gerungen!


Ich seh ihn!

Ihm erscheinet der Auferstandne!

Seine Hände leget er in des Göttlichen Wunden!

Himmel und Erde vergehen um ihn!


Er sieht die Klarheit des Vaters im Angesichte des Sohns!

Ich hör', ich hör' ihn! er ruft,

Himmel und Erde vergehen um ihn! er ruft:

Mein Herr! und mein Gott!


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 1, Leipzig 1798, S. 152-157.
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