Salem

[38] Einen festlichen Abend stieg mit dem Schimmer des Mondes

Salem, der Engel der Lieb' und mein Schutzgeist,

Vom Olympus herab; ich sah den Göttlichen wandeln,

Und ihn gegen mich lächelnd einhergehn.

Ewigblühende Rosen umkränzten sein fliessendes Haupthaar,

Himlische Rosen, von Thränen erzogen,

Die bey dem Wiedersehn einander Liebende weinten,

Als sie kein Tod mehr trennt' und kein Schicksal.

Und ein wolkiger Hauch geathmeter Weihrauchsdüfte

Floss von dem Haupt des Unsterblichen nieder;

Opferdüfte, wie Gott sie, bey süssen dankenden Liedern,

Nach dem Tode die Liebenden opfern,

Dass er sie ewig erschuf, und sie, für einander geschaffen,

Auf der Erde sich fanden und liebten,[39]

Sie kein Schicksal trennte; dass sie nun ewig sich lieben,

Weil sie auf Erden sich fanden und liebten.

Also näherte Salem sich mir, und tief in mein Herz hin

Drang ein Schauer wallender Freuden,

Wie ich mich freue, wenn ich ein Kind der Unschuld erblicke,

Und an Adams Unsterblichkeit denke.

Sieh, ein silberner Ton floss von der Lippe des Seraphs,

Und er blickte sanfter, und sagte:

»Ich bin Salem, der Liebenden Engel, die edler sich lieben,

Göttlicher, als sich Sterbliche lieben.

Wenn es die ersten Empfindungen schlägt, in den stammelnden Jahren,

Bild' ich das Herz der jungen Geliebten.

Lehre dann in Thränen des Knaben Auge zerfliessen,

Die er unwissend der Sterblichen weinet,

Die er lieben soll. Sähe den Knaben die Sterbliche weinen,

O sie würd' ihn da schon umarmen,[40]

Und ihn lieben, und wüsst' es doch nicht, dass es Liebe wäre,

Was sie in seiner Umarmung empfände.

Wenn die Sterbliche nun, wie an den Bächen des Himmels

Eine Rose der Seraphim, aufblüht,

Und den Jüngling erblickt, der seiner Einsamkeit Tage

Fühlt, und seufzend ihr Ende verlanget,

Lässt sie der Thränen viel ihn weinen, Thränen der Wehmuth,

Und der unaussprechlichen Liebe.

Denn sie fühlet noch nicht für ihn, was für sie er empfindet,

Kennet nicht den zärtlichen Kummer

Seiner Seele, den thränenden Blick nicht des wachenden Auges

Durch die mitternächtlichen Stunden,

Seines Herzens Beklommenheit nicht, worüber er selbst staunt,

Weil er noch nie die Pangigkeit fählte,

Nicht sein frommes Gebet; das hatte der nur vernommen,

Der sie für einander erschaffen.[41]

Dann, dann sendet mich Gott, dann steig' ich in heiligen Träumen

In das Herz der Sterblichen nieder.

Schlafend sieht sie den Jüngling, wie er in Thränen zerfliesset,

Und mit bebender Stimme die Liebe

Endlich stammelnd ihr sagt, dann wieder in Thränen zerfliesset,

Und mit stummer Wehmuth ihr flehet.

Dann empfindet sie grosse Gedanken, das Glück zu verachten,

Und die Schattenweisheit der Kleinen,

Die, ohnmächtig, die Liebe ganz, und die Tugend zu fühlen,

Da noch von Glückseligkeit träumen.

Ach! dann komt die selige Stunde der ersten Umarmung,

Und die jauchzende Jugend der Liebe.

Dann erzittern von süsser Entzückung die ewigen Seelen,

Von der Begeistrung himlischer Freuden.

Dann erstaun' ich über die hohen Wesen, die Gott schuf,

Als er Seelen schuf zu der Liebe.[42]

Und wie stolz, mit welcher Empfindung bring' ich die Seelen,

Nach dem Tode, zur ewigen Ruhe,

Zu den Schaaren der Liebenden alle, die ewig sich lieben,

Weil sie auf Erden sich fanden und liebten!«

Wenn du der bist, himlischer Fremdling, ach wenn du der bist,

O so höre mich, göttlicher Salem!

Höre mit Huld mich, du schönster der Engel, und lehre mich Tugend,

Dass ich der Liebe Wonne verdiene.

Warum wendest du dich? ach, warum fliehst du mein Auge?

Warum muss ich traurend dir nachsehn?

Salem, ich hoffte, du solltest mich hören, da die mich nicht höret,

Der mein Herz schon lange geweint hat.

Ach, ich hoffte, du solltest auch ihr, in heiligen Träumen,

Meiner Seele Bekümmerniss zeigen,

Mein erzitterndes Herz, wie ich in Thränen zerflösse,

Und mit bebender Stimme die Liebe[43]

Endlich stammelnd ihr sagte, dann wieder in Thränen zerflösse,

Und mit stummer Wehmuth ihr flehte!

Warum wendest du dich? ach, warum fliehst du mein Auge?

Warum muss ich traurend dir nachsehn?


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 1, Leipzig 1798, S. 38-44.
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