Die Maßbestimmung

[54] Freude! da steht's, ein Geniuswerk; und mir ist doch

Etwas nicht da, ich entbehre! Der Entzückung

Strahlen, die es auf mich herströmet,

Treffen, wie ist das? nicht ganz;


Hüllen sich dort, und hüllen sich da, wie in Dämrung,

Strahlen nicht ganz in das Herz hin; denn ich wünsche!

Und doch lockt ihm das Haar die Schönheit,

Hellt ihm mit Lächeln den Blick;
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Füllt ihm die Stirn die Hoheit mit Ernst, mit dem heitren

In dem Gesicht des Entschlossnen, wenn er That thut,

Oder thun will. O du der Irre

Faden, wo liegst du? Was fehlt?


Stimmet vielleicht der Theile Verein nicht harmonisch?

Dich, Harmonie, der gehorchend, sich zu Mauren

Felsen wälzen! der Baum, zu schatten,

Wandelt ins Sonnengefild!


Zaubert so gar der Meister nicht stets. Hat das Urtheil

Etwa den Theil, und das Theilchen nicht mit scharfem

Blick gemessen? bemerkt' es Ausart

In das zu Gross, und zu Klein,


Die nicht? Genau das Mass nicht gedacht; und der Umriss

Ründet sich nicht mit der Biegung, der es glücket.

Ohne Messung gelang selbst Venus

Gürtel den Grazien nicht.
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Faden, o da, da windest du dich, von Athene's

Finger gedreht zu der Leitung aus der Irre.

Massbestimmug! auch du lehrst Felsen

Wallen, und Haine, den Strom


Säumen! Vermiss' im Lied' ich dich oft; so entschlüpf' ich,

Frey nun, dem Kreis, den sein Zauber um mich herzog:

Und der winkt mir vielleicht vergebens

Dann mit dem mächtigen Stab.


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 2, Leipzig 1798, S. 54-57.
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