Psalm

[118] Um Erden wandeln Monde,

Erden um Sonnen,

Aller Sonnen Heere wandeln

Um eine grosse Sonne:

»Vater unser, der du bist im Himmel!«


Auf allen diesen Welten, leuchtenden, und erleuchteten,

Wohnen Geister an Kräften ungleich, und an Leibern;

Aber alle denken Gott, und freuen sich Gottes.

»Geheiliget werde dein Name.«


Er, der Hocherhabene,

Der allein ganz sich denken,

Seiner ganz sich freuen kann,[119]

Machte den tiefen Entwurf

Zur Seligkeit aller seiner Weltbewohner.

»Zu uns komme dein Reich.«


Wohl ihnen, dass nicht sie, dass er

Ihr Jetziges, und ihr Zukünftiges ordnete,

Wohl ihnen, wohl!

Und wohl auch uns!

»Dein Wille gescheh;

Wie im Himmel, also auch auf Erden.«


Er hebt mit dem Halme die Ähr' empor;

Reifet den goldnen Apfel, die Purpurtraube;

Weidet am Hügel das Lamm, das Reh im Walde:

Aber sein Donner rollet auch her,

Und die Schlosse zerschmettert es

Am Halme, am Zweig', an dem Hügel, und im Walde!

»Unser tägliches Brodt gieb uns heute.«


Ob wohl hoch über des Donners Bahn

Sünder auch, und Sterbliche sind?

Dort auch der Freund zum Feinde wird?

Der Freund im Tode sich trennen muss?

»Vergieb uns unsere Schuld,

Wie wir vergeben unseren Schuldigern.«
[120]

Gesonderte Pfade gehen zum hohen Ziel,

Zu der Glückseligkeit!

Einige krümmen sich durch Einöden,

Doch selbst an diesen sprosst es von Freuden auf,

Und labet den Durstenden.

»Führ' uns nicht in Versuchung,

Sondern erlös' uns vom Übel.«


Anbetung dir, der die grosse Sonne

Mit Sonnen, und Erden, und Monden umgab;

Der Geister erschuf;

Ihre Seligkeit ordnete;

Die Ähre hebt;

Der dem Tode ruft;

Zum Ziele durch Einöden fuhrt, und den Wanderer labt,

Anbetung dir!

»Denn dein ist das Reich, und die Macht,

Und die Herlichkeit. Amen.«


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 2, Leipzig 1798, S. 118-121.
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