Schluß.

[433] Und nun lasset uns dann die nicht sehr angenehmen Betrachtungen über den Eigennutz und Undank der Menschen beschließen! Es ist schwer, bey Behandlung solcher Gegenstände, über die man selbst so manche niederschlagende und empörende Erfahrung gemacht hat, ohne Bitterkeit zu reden, und ohne in den deklamatorischen Ton zu fallen, der doch dem philosophischen Forscher nicht ziemt. Indessen darf der Unwillen des verständigen Mannes über diese Verkehrtheiten nur vorübergehend seyn, nicht aber in Menschenhaß ausarten. Wenn man sich grade mit der genauern Beobachtung solcher moralischer[434] Gebrechen beschäftigt; so reißt das manche alte Wunde wieder auf; aber ein Augenblick von kaltblütiger Ueberlegung und der Gedanke, daß die Mehrsten unsrer Brüder mehr aus Irrthum und Mangel an Einsicht, als aus Bösartigkeit fehlen, versöhnt dann wieder mit der Menschheit.


Oft betrogen, gemishandelt und gemisbraucht, trauet man freylich nicht mehr so leicht und glaubt nicht so schnell an die uneigennützige Zuneigung, noch an die zu erwartende Dankbarkeit. Man wundert sich weniger darüber, daß man hintergangen wird, als man sich darüber freuet, wenn wenigstens dieselben Menschen uns nur Einmal betrogen haben. Man verschließt sich nach und nach in sich selbst, möchte am Ende seiner Tage nun auch ein wenig sich selber leben, wenn man lange genug nur für Andre gelebt hat. Aber darum hört man[435] doch nicht auf, Gutes zu thun, wenn sich die Gelegenheit dazu zeigt; nur sucht man diese Gelegenheit vielleicht nicht mehr mit so viel Eifer, dringt seine Dienstleistungen niemanden auf. Wenn diese Stimmung von Einer Seite den Kreis der Wohlthätigkeit beschränkt; so erweitert sie ihn von der andern auch wieder. Denn wer nicht viel von den Menschen erwartet und fordert; wer nicht nur, wie die mehrsten Leute, sich nicht gleich erzürnt, wenn ihm das nicht zu Theil wird, was bloß von der Gefälligkeit, dem freyen Willen und dem Wohlwollen Andrer abhängt; sondern wer auch nicht einmal auf dasjenige, was er als Pflicht erheischen könnte, sichre Rechnung macht; wer sich bestrebt, so wenig wie möglich Andrer zu bedürfen und für die Dienste, welche er, aus Liebe zum Ganzen, seinen Mitgeschöpfen leistet, keine Gegendienste fordert; der wird durch das undankbare und eigennützige Betragen[436] derer, die ihn umgeben, nicht abgehalten werden, den Weg zu wandeln, den Kopf und Herz ihm vorzeichnen.


Rousseau sagt: »er liebe die einzelnen Menschen, aber nicht die Menschen im Ganzen.« Ich möchte wohl im Gegentheil sagen: ich liebe mehr die Menschheit, als die einzelnen Menschen. Es ist mit der Zusammenlebung in der Welt, wie mit den mehrsten großen Orchestern. Vollstimmige Sachen werden leidlich gut vorgetragen; die einzelnen Fehler laufen mit durch, ohne das Ganze widrig zu machen und die Haupt-Harmonie zu stöhren. Als Ripien-Spieler in diesem allgemeinen Concerte sind die mehrsten Menschen gut genug; auch trägt wohl hie und da einmal Einer eine obligate Passage angenehm und richtig vor – Allein lang darf diese nicht seyn und sehr in der Nähe darf man auch nicht zuhören. Der[437] wahren Virtuosen, die man als Solospieler oft und lange und in seinem Cabinette hören möchte, giebt es Wenige; aber diese Wenigen machen uns dann auch das Menschengeschlecht werth und versöhnen uns mit den Uebrigen, die doch auch da seyn müssen, wenn man große Sachen aufführen will.

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Ueber Eigennutz und Undank. Leipzig 1796, S. 433-438.
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