Der 1. Absatz.

Von denen Aderen und Nerven.

[264] Die Aderen seynd jene Röhrlein und gleichsam kleine Canäl / durch welche das Blut in unterschiedliche Theil des Leibs geführt wird.1 Sie werden in zweyerley Gattungen abgetheilt / nemlich in Blut-Aderen /und in Pulß- oder Schlag-Aderen: jene übergeben das Blut dem Hertzen / dise aber nehmen es von dem Hertzen / und bringen es in die andere Theil des Leibs. Die Aderen entspringen theils von der Leber /und theils von dem Hertzen / als von welchen beyden auch das Blut ausgekochet wird.

Die Nerven seynd lange / hohle / weich- und bewegliche Glieder / innerhalb durch den menschlichen Leib hin und wieder ausgestreckt / sie haben ihren Ursprung von dem Hirn / zwar nicht unmittelbar / sondern vermittelst der Nucha (ist das Ort / wo des Ruckgrads Marck anfanget) sie schliessen den Spiritum animalem, das ist / den thierlichen Geist in sich /und ertheilen den Gliederen ihre Bewegnuß / Kräfften und Empfindlichkeit.

Durch die Aderen und Nerven können sittlicher Weiß verstanden werden theils die geistliche / theils weltliche Obrigkeiten / die Prediger / Lehrer und Vorsteher: dann gleichwie die Aderen das Blut von dem Hertzen oder von der Leber in sich empfangen / aber nicht für sich allein behalten / sondern allen Gliederen nach Proportion und Nothdurfft getreulich mittheilen / also sollen die Obere / Vorgesetzte und Prediger der Erleuchtungen / der Tugend- und Wissenschafften /die sie von GOTT empfangen oder erlernet haben /auch andere theilhafftig machen / und selbe nicht für sich allein behalten / nach dem Exempel des weisen Salomons / der von ihm selber bezeuget: Sapientiam, quam sine invidia communico, & honestatem illius non abscondo:2 Wie ich die Weißheit unfalsch erlernet hab / also lehre ich sie auch andere ohne Vergunst / oder Vergelt / und verbirg ihre Würde niemand. Ja nach dem Exempel GOttes des Allerhöchsten selber / der sich oder seine Vollkommenheit allen Menschen / ja allen Geschöpffen so reichlich und freygebig ohne allen Vergelt und eignen Nutzen mittheilet: inmassen / wie das Sprüchwort bey denen Lateineren ist: omne bonum est communicativum sui, alles was gut ist / theilet sich anderen mit / und deß wegen / weilen GOTT unendlich gut ist / theilt er sich denen Creaturen auf unendliche Weiß mit. Zu einer solchen freygebigen Mittheilung[264] ermahnt uns auch Christus in dem Evangelio / sprechend: Gratis accepistis, gratis date:3 Umsonst habt ihrs empfangen / umsonst gebts auch anderen. Wie auch der H. Apostel Petrus: Dienet einander / ein jeder mit der Gnad / die er empfangen hat.4 Die Belohnung aber wird darfür versprochen von dem Propheten Daniele, da er sagt: Qui ad justitiam erudiunt multos, fulgebunt quasi stellæ in perpetuas æternitates: Die / so vil zur Gerechtigkeit gelehrt und gewisen haben /werden wie die Sternen scheinen immer und ewiglich.

Deßgleichen sollen auch die weltliche Obere und reiche Beamte die Güter und Reichthumen / die sie aus der gemeinen Cassa oder Rent-Kammer empfangen haben / nicht für sich allein behalten / sondern (gleichwie die Aderen das von der Leber und von dem Hertzen empfangne Blut) denen bedürfftigen Mitgliederen des sittlichen Leibs nach Nothdurfft und Proportion, nach der Maaß Justitiæ distributivæ, der austheilenden Gerechtigkeit mittheilen / selbige Glieder zu stärcken und zu erhalten.

Sie sollen seyn als wie die Flüß / welche die Felder durchlauffen / und mit dem Wasser / das sie von dem Meer empfangen haben / zur Fruchtbarkeit anfeuchten / und nicht als wie die See- oder stehende Wasser /welche immerdar nur einnemmen / und nichts mehr von sich geben.

Insonderheit die Pulß-Aderen bedeuten abermahl die geist- und weltliche Obrigkeiten: dann / gleichwie man aus dem Schlag der Pulß-Aderen die gute oder schlimme Constitution und Beschaffenheit des menschlichen Leibs kan erkennen / also kan man aus der Weiß zu handlen der Oberen den Wohl- oder Ubelstand des sittlichen Leibs / das ist / der geistlich-oder weltlichen Communität abnemmen.5

Wann die Pulß ordentlich gehet / und gleichförmig / nicht zu geschwind / und nicht zu langsam / nicht zu starck / und nicht zu schwach / da ist es ein Zeichen einer guten Gesundheit: und wann die Weiß und Manier zu handlen und zu regieren bey der Obrigkeit recht und ordentlich / nicht zu scharpff und nicht zu mild / nicht zu langsam und nicht zu gäh / da kanst du urtheilen / daß auch der gantze Leib derselbigen Communität wohl bestellt und eingerichtet seye: und also hingegen etc. dann es heißt da: Qualis Rex, talis grex, wie der Hirt / also die Heerd. Gleichwie der Zeiger an einer Uhr / nachdem er recht oder nicht recht gehet / die innerliche gute oder schlimme Beschaffenheit des gantzen Uhrwercks andeutet / also thut auch gemeiniglich die Regierungs-Art eines Oberen die Beschaffenheit seiner unterhabenden Gemeind andeuten.

Endlichen können auch noch füglich durch die Pulß-Aderen die Wort und Reden des Menschen verstanden werden: dieweilen / gleichwie die besagte Pulß-Aderen den innerlichen Zustand des Leibs anzeigen / also zeigen die Wort und Reden den innerlichen Zustand des Gemüths an: laut des gemeinen Sprüchworts: Quo cor abundat, os loquitur, von wem das Hertz voll ist / von dem übergeht der Mund. Und wie der weise Mann sagt: Vena vitæ os justi, der Mund des Gerechten ist ein lebendige Ader. Wann nun die Ader in rechter Zeit und Maaß geöffnet wird / da lasset sie das böse und verderbte Blut herauß / und nimmt wiederum ein frisch- und gesundes an: hingegen / wann sie lang oder gar nicht geöffnet wird / da ist es offt sehr schädlich / und bringt schwere Kranckheiten des Leibs / weilen die böse und corrumpirte Humores sich sammlen und vermehren etc.6 Also auch / wann der Mund durch die Red zu seinen Zeiten sich aufthut / da geht das bose corrumpirte Blut der Sünden und Laster herauß / und versammlet sich ein neues gesundes Blut der Tugenden und der Gnad GOttes / wann aber die Ader des Munds oder der Red besagter massen lang oder gar nicht geöffnet wird / da verfaulet das böse Blut / das ist / die Sünd und Laster / und stecket alles in dem Menschen[265] / in der Seel mit einem gifftigen Unflat an.

Eine solche gesunde und sittliche Aderläß hat gar weißlich angestellt der reumüthige David (und alle andere bußfertige Sünder) da er von Hertzen gesprochen hat: Peccavi Domino, ich hab gesündiget wider den HErrn. Und wiederum: Confitebor adversum me injustitiam meam Domino:7 Ich will dem HErrn meine Ungerechtigkeit bekennen wider mich: Und sihe! alsobald ist der gute Effect dieser geistlichen Aderläß erfolget / das böse Blut / ja das Gifft der Sünden ist / von dem Hertzen geflossen; dann er sagt gleich darauf: Et tu remisisti iniquitatem peccati mei, GOtt habe ihm die Boßheit seiner Sünd vergeben.

Aber es gibt vil Menschen / welche / obwohl sie sich immerdar mit vilem Essen und Trincken anfüllen / dannoch gar selten / und in langer Zeit kaum einmahl die Ader ein wenig öffnen / und nur ein kleines Löchlein machen lassen / ihnen einbildend / es seye schon genug und alles darmit ausgericht / das böse Blut und alle so lang gesammlete schädliche Feuchtigkeiten oder schädliche Hitz und Unreinigkeiten seyen jetzund schon alle herauß: aber nein / sie irren sich weit / sie solten mehr und öffters Ader lassen /sonst bleibt gemeiniglich das meiste und schlimmste Blut noch in dem Leib / und verursacht ihnen schwere Kranckheiten. Eben also ist es nicht genug / daß ein sündiger Mensch / qui iniquitatem sicuti aquam, der die Boßheit als wie das Wasser hinein schluckt / und immerdar Sünden mit Sünden häuffet / in langer Zeit /etwan das gantze Jahr nur ein- oder zweymahl ein kleine geistliche Aderläß anstelle / ich will sagen /kurtz und obenhin beichte / sondern es muß öffters und besser geschehen / sonsten bleibt noch vil schlimmes Blut dahinten / die ärgste Brocken bleiben stecken / die ihme werden das Hertz abstossen.

Hingegen / wann man gar zu offt und vil zu Unzeiten aderlasset / da ist es schädlich / die beste Lebens-Geister und das beste Blut gehen herauß / es schwächet die Natur / und schadet der Gesundheit. Also auch / wann man gar zu offt und vil / zu Unzeiten oder zu weit den Mund eröffnet / und zu vil Wort herauß lasset / da flieget der Geist der Andacht aus / man verletzt das Gewissen / und schadet der Gesundheit der Seelen. Also wahr ist / was geschrieben stehet: mors & vita in manibus linguæ,8 das Leben und der Todt stehet in der Hand der Zungen: nachdem man sie nemlich wohl oder übel braucht und anwendet.

Was die Nerven anbelangt / so mögen auch durch diese wohl die Bischöff und geistliche Vorsteher verstanden werden / als welche in Christo von dem Römischen Pabst / als wie die Nerven von dem Hirn und von der Nuncha ausgehen / oder den Ursprung ihres Gewalts und ihrer Authorität haben.9 Die Nerven des Leibs haben spiritum animalem, den thierlichen Geist in sich: aber diese sittliche Nerven des geistlichen Leibs der Kirchen / nemlich die Bischöff und Prälaten sollen vilmehr den Spiritum vitalem, den Lebens-Geist / ich verstehe den Geist GOttes in sich haben /von dem beseelet und regiert werden / auf daß sie ihn auch ihren geistlichen Gliederen mittheilen können.

Die Nerven geben allen Gliederen ihre Stärcke /Kräfften und Bewegnuß / und die geistliche Vorsteher sollen ihre Untergebne stärcken / und zum Guten / zur Ubung der Tugend bewegen. Ferners die Nerven / da sie vom Hirn oder Haupt ausgehen / seynd sie gantz zart / lind und weich / aber je weiter sie sich von ihm entfernen / in den Leib und in die Glieder hinab steigen / da werden sie immer gröber und härter: also gibt es auch zu Zeiten einige geistliche Vorsteher und Obrigkeiten / welche von Anfang ihrer Erhebung / da sie mit dem Haupt / mit Christo noch nahe verbunden /gantz weich / zart und lind / das ist / mitleidig / gütig und sanfft seynd: aber wann sie sich von dem Haupt in etwas absönderen oder entfernen / und in den Leib /in die Glieder sich ausstrecken / ich will sagen / in die weltliche Geschäfft / oder[266] in das Wolleben sich zu vil vertieffen / da werden sie härter und räuher / das ist /unmilder und ungedultiger. Endlichen / wann ein Nerven völlig abgeschnitten / oder abgesönderet wird / da wird sie niemahl mehr mit dem anderen anwachsen oder zusammen gehen / wohl aber die Aderen: Und also sehen wir / daß es mit einigen Schismaticis, benanntlich Griechischen Bischöffen in Orient ergangen ist / welche / nachdem sie einmahl durch ihren Irrwohn von der Römischen Kirchen / und von dem sittlichen Leib Christi / von dessen Mitgliederen seynd abgerissen und abtrünnig worden / nimmermehr mit denselben haben können oder wollen vereiniget werden.

Quelle:
Kobolt, Willibald: Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...]. Augsburg 1738, S. 264-267.
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