An Karl Heinrich Linde

[181] Bei seiner Amtsjubelfeier.


Greifswald. 1814.


»Heil dem Mann, der dem Herrn vertraut, der spricht zu dem Herrn, Herrn:

Herr, mein Fels, meine Burg, Herr, mein Erretter, mein Hort,

Schirmender Schild in der Schlacht, Horn unantastbarer Stärke,

Auf Dich hofft' ich, und nie hast Du den Hoffer getäuscht!

Heil dem Mann! Ihn umfängt mit Adlerrfittig die Vorsicht;

Ihm glänzt tröstend die Sonn', ob auch der Himmel sich schwärzt.

Nicht schreckt ihn das Grauen der Nacht. Nicht trifft ihn des Mittags[182]

Tödtlicher Pfeil. Ihn umgarnt nimmer das lauernde Netz.

Tausend stürzen zur Rechten dem Sicheren, tausend zur Linken;

Sein nur schont das Geschoß, welches die Tausend erlegt.

Mein begehrt er und stracks helf' ich ihm aus. Aus den Aengsten

Reiß' ich ihn eilig heraus, weil er mit Namen mich nennt.

Rufe mich an in der Noth, und ich will dich erretten; Ich will dich

Setzen zu Ehren, ich will hold und gewärtig dir seyn.

Sättigen will ich dein Herz mit langem Leben. Ein Beispiel

Sollst du den Sterblichen seyn seltenen dauernden Heils.«


Würdiger Greis, was so der Prophet hochahnend gesungen,[183]

Was er geschauet im Geist, hast Du im Leben erprobt.

Seltenes ward dir gewährt vom Herrn. Mit dem Manna von oben

Stärkt' er dich, tränkete dich aus dem verjüngenden Quell.

Siebenzig wurden beschieden dem Sterblichen, achtzig aufs höchste;

Ueber die achtzig hinaus ward Dir gemessen das Maß.

Dreimal sahst du erneuert um Dich die Geschlechter der Menschen.

Welche zugleich mit Dir einstens betraten die Bahn,

Längst schon schlafen die Meisten den eisernen Schlaf in der Tiefe.

Schon auch ruhn, die mit Dir einerlei Mutter geherzt.

Du nur schreitest einher mit Kraft, ein unsterblicher Jüngling;

Nicht ward blöder der Blick; zögernder ward nicht der Gang.[184]

Rüstig förderst du Tag vor Tag das beschiedene Tagwerk,

Wegerst der Lasten Dich nicht, welche wol Jüngere scheu'n,

Schau'st mit Ruhe zurück in die längst versunkene Vorzeit,

Blickst gleichmüthig hinaus in das Verhängniß, was kommt.


Freue dich, würdiger Ohm, des Tags, den Gott Dir beschieden!

Viel zwar sähen ihn gern; aber sie sehen ihn nicht,

Jenen belohnenden Tag, der zwanzigtausend der ältern

Blühenden Brüder begrub, kräftiglich blühend, wie sie.

Schau' auf, würdiger Greis, mit Dank und Vertrau'n zu dem Herrn Herrn,

Welcher vor andern an Dir Großes und Gutes gethan!

Schlürf' aus dem Becher des Lebens die letzten rinnenden Tropfen![185]

Keiner verrinne, der nicht andre gelabet, wie Dich!

Jüngeren werde verziehn, zu verschwenden die Tag' und die Monden!

Aber am Rande der Zeit steigen Minuten im Preis.

Ach um Eine, nur Eine der unschätzbaren Minuten

Gäbe der König sein Reich, gäbe den Lorbeer der Held,

Gäbe der Dichter dahin den unsterblichsten seiner Gesänge;

Aber nicht Gold nicht Gesang kauft die Minute zurück.

Laßt, dann, Freunde, uns haschen die Flüchtige! Würdig benutzen

Lasset das Nun uns; das Nun richtet, was war und was wird.


»Friede dir, würdiger Ohm, und sprich noch ferner zum Herrn Herrn:[186]

Herr, mein Fels, meine Burg, Herr, mein Erretter, mein Hort!

Dir vertrau' ich und halte an Dir, ob auch Himmel und Erde

Um mich versänken; Du bleibst, Ewiger, dem, der Dir traut!«


Quelle:
Ludwig Gotthard Kosegarten: Dichtungen. Band 7, Greifswald 1824, S. 181-187.
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