Frühgesang

[29] 1787.


Der Aufgang flammt. Der Abend steht düsterblau.

Der Mond hangt bleich am Himmel. Im fernen Ost

Erblühn des Morgens junge Rosen,

Röthlich und trüblich wie Rosa's Wangen.


Erwacht ihr Leben alle! Lobsingt dem Herrn!

Lobsing' ihm Lerche, Drossel und Nachtigall!

Brüllt euren Dank ihm, satte Heerden!

Wiehert ihm, Rosse, und rauscht ihm, Adler!


Neig' ihm die Häupter, wallender Aehrenwald!

Hauch' ihm Gerüche, thymianreiche Flur!

Erdampft ihm, Wiesen! Flüstert, Haine!

Rieselt, ihr Quellen, und donnre, Weltmeer!
[30]

Erwach' in deiner Schöne, Holdselige!

In deiner Strahlenfülle, Goldlockige!

Erwach' und schüttle, Sonne Gottes,

Segnend den Thau aus den gold'nen Locken!


Schau, sie erwacht! Wie rollt sie den Flammenblick!

Wie glüht ihr Heldenantlitz! – Wie liegt die Erd'

Anbetend vor ihr, schauert Düfte,

Blitzt ihr Entzücken, und jauchzt ihr Jubel!


Kraft meines Geistes, schwinge dich, Ewige!

Schlag meines Herzens, schlage gewaltiger!

Rauscht feierlich, meine frommen Saiten!

Jauchzt in den Jubel der Morgenschöpfung!


Wem tönt mein unentheiligter Frühgesang?

Wem flammt die Flamme meiner entbrannten Brust? –

Urschöner, dir! und deiner Schönheit

Lichtestem, holdestem, hellstem Abglanz.
[31]

Wem weih' ich diese trauten Vergißmeinnicht?

Die erste, Unvergeßlicher, weih' ich dir!

Die zwote deines reinen Odems

Reinster, unsträflichster, schönster Tochter!


Quelle:
Ludwig Gotthard Kosegarten: Dichtungen. Band 7, Greifswald 1824, S. 29-32.
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