Nachtphantasie

[65] 1777.


Wenn im Mohrengewand Mitternacht mein Gemach

Rings umsitzt, wenn die Welt still ist, als harrte sie

Schon des kommenden Richters –

Oefter lausch' ich im Lager dann


Wach und sinnig und ernst auf die Vergangenheit,

Und bleichdämmernd, wie Traum, kommt sie. Mein Aug' entdeckt

Labyrinthengewebe,

Drinn ich, Knabe und Jüngling, schritt.
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Und ich wende mich, wag's, rufe der Zukunft auch –

Scheltend bleibt sie zurück. Riesengestalten gehn

Zürnend vor mir vorüber,

Und ich schließe mein schwimmend Aug'.


Irr' und schreckenbetäubt lauschet der Wanderer

So im graulichen Hain, wo ihn die Nacht ergriff,

Wo ihn sibenfach Dunkel

Aengstigt, bis ihm die Sonn' aufgeht.


Zwar mir geht sie nicht auf. Aber mir dämmert doch

Der Gedanke ins Herz: »Siehe, Vergangenheit

War vor kurzem die Zukunft« –

Und ich öffne getrost mein Aug'.


Quelle:
Ludwig Gotthard Kosegarten: Dichtungen. Band 6, Greifswald 1824, S. 65-67.
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Gedichte
Anthologie aus den Gedichten von Ludwig Theobul Kosegarten