Wir und Ihr,

oder

die Waage der Gerechtigkeit

[154] Ihr stammt von Mannus und von Teut;

Von Teut und Mannus stammen wir;

Ein Eichwald zog uns groß.

Ihr überstürmtet Ost und West;

Wir blieben heim im Vaterhaus,

Hütend den heil'gen Heerd.


Euch tummelnd unter Galliern

Und Römlingen, verlerntet ihr

Der Väter Zung' und Zucht.

Wir tragen noch der Väter Bild,

Wir reden noch die Sprache Teuts,

Die jede Fälschung scheu't.
[155]

Zu Thor und Wodan riefen wir;

Ihr zu Sankt Guy und Sankt Denys;

Eins war des Andern werth.

Doch Winfried, Gall und Fridolin,

Sie wurden uns gesandt durch euch,

Das fordert unsern Dank.


Für Christus strittet ihr bei Tours;

Im Lechfeld stritten wir für Ihn,

Das stellt uns gleich mit euch.

Doch als zu Clermont Gott gebot,

Habt ihr erkämpft das heil'ge Grab;

Das, traun! gabt ihr voraus.


Den Gottesfrieden gabet ihr,

Das Ritterthum erfandet ihr;

Das heischt der Menschheit Dank.

Es kam die Sitt', es kam die Kunst,

Die Bildung kam zu uns von euch;

Das heischt auch unsern Dank.
[156]

Des Liedes Leib erwecktet ihr,

Wir hauchten eine Seel' ihm ein,

Eins ist des Andern werth.

Doch wer, der unserm Eschilbach,

Unserm Veldegk einmal gelauscht,

Lauscht eurem Troubadour?


Der Schönheit Blume pflücktet ihr;

Uns stärkt des Wissens nährend Mark,

Wohl dies wiegt jenes auf.

Ihr brachtet Cartes und Pascal

Leibniz und Kepler brachten wir,

Und unsre Schale sank.


Gerson gabt ihr und Fenelon,

Wir Tauler, Spener, Frank und Ar'nd;

Die Schalen schweben gleich.

Doch wiegt auch Quesnel Luthern, auf,

Wol den Melanchton Abälard,

Wol Ailly den Reuchlin?
[157]

Ihr nennet Cid uns und Oedip,

Wir nennen Egmont euch und Tell;

Und eure Schale steigt.

Bossuet nennt ihr und Arouet,

Klopstock und Müller nennen wir,

Und unsre Schale sinkt.


Gelt, ihr seyd witzig, glatt und fein;

Wir sind nicht witzig, fein und glatt,

Wir sind nur schlecht und recht.

Ihr trotzt auf hohes Ehrgefühl;

Wir trotzen nicht, wir pflegen still

Den Sinn für Pflicht und Recht.


Wohl Heldenmuth und Rittersinn

Habt ihr erprobt gar oft und viel;

Nicht minder wir, noch mehr!

Für euch zeugt Guesclin, Chatillon,

Bayard, Turenne, Catinat;

Für uns zeugt Friederich!
[158]

Hart wurdet ihr bedrängt; da stand

Die gotterfüllte Jungfrau auf,

Erlöste euch und starb.

Hart sind auch wir bedrängt; doch schon

Regt mächtig sich der Geist des Herrn,

Der uns, auch uns erlöst.


Doch g'nug des Haders! Einem Blut

Entsproßt, getauft auf Einen Christ,

Was hadern wir und ihr?

Begabt seyd ihr, begabt sind wir,

Nicht minder sündig wir wie ihr;

D'rum laßt uns Freunde seyn!


Wohl schön und groß ist euer Land;

Auch unser Land ist weit und schön;

Raum's g'nug für uns und euch!

Gott schied uns durch Gebürg und Strom;

Scheu't, wackre Brüder, scheu't den Gott,

Und Friede sey mit euch!


Quelle:
Ludwig Gotthard Kosegarten: Dichtungen. Band 7, Greifswald 1824, S. 154-159.
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Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Anthologie aus den Gedichten von Ludwig Theobul Kosegarten

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