Sechstes Kapitel

[199] Am 7ten Julius, einem heitern, schönen Tage, hatte ich des Morgens meine gewöhnliche Beschäftigung vorgenommen: ich schrieb an meiner Leidensgeschichte. Gegen zehn Uhr trat der Hofrat de Grawi zu mir herein. Nach einer kurzen unbedeutenden Unterhaltung ergriff er, seiner lästigen Gewohnheit gemäß, die Karten, setzte sich und spielte grande patience, wodurch er meine eigene patience oft sehr hart auf die Probe stellte: denn ich mußte mich als müßiger Zuschauer oft manche Stunde mit Langerweile plagen, und der gutmütige Unbarmherzige hatte gar keine Ahndung davon, daß auch einem Verwiesenen in Kurgan die Zeit kostbar sein könne. Auch heute saß er bis nach elf Uhr. Ich ging schweigend voll innern Unwillens auf und nieder, und nur einmal nahm ich teil an dem Spiel, als er mich fragte, über welchen Gegenstand er die Karten legen solle, und ich ihm antwortete: auf die Hoffnung, meine Frau bald hier zu sehen. Es kam diesmal glücklich aus, und er freute sich herzlich darauf, Christina Karlowna bald bei sich zu bewirten.

Endlich erinnerte er sich, daß er noch Geschäfte in seinem Gerichte habe, und ging weg. Kaum war er fort, so setzte ich mich wieder an meinen Tisch, um noch ein Stündchen zu schreiben. Mitten in einer Periode unterbrach mich mein Bedienter, der in die Tür hinter mir trat und sagte: »Eh bien, Monsieur, encore quelque chose de nouveau!«

Ich hörte das nur mit halbem Ohr, glaubte, er wolle mir eine neue Liebesgeschichte mitteilen (deren er seit unserer Ankunft wohl schon zwanzig an- und ausgesponnen[200] hatte), drehte, ohne die Feder wegzulegen, den Kopf nachlässig nur halb nach ihm hin und antwortete:

»Quoi donc?«

»Dans ce moment,« versetzte er, »un dragon est venu vous prendre.« Ich wurde von Entsetzen ergriffen, sprang auf und starrte ihn sprachlos an.

»Oui, oui,« fuhr er fort, »nous irons peut-être encore aujourd'hui à Tobolsk.«

»Comment?« stammelte ich.

Er führte mir nun einen Mann herein, der den Dragoner selbst gesehen, dessen Aussage selbst gehört und ihn bis zu de Grawi begleitet hatte, dann aber vorausgelaufen war, mich davon zu benachrichtigen. Den weitern Inhalt der mitgebrachten Depeschen wußte er nicht.

Was sollte ich vermuten? Meine Freiheit? Nein. Warum würde ich denn nach Tobolsk zurückgebracht? Es gab ja einen weit näheren Weg, gerade nach Jekatarinburg: warum ließe man mich einen Umweg von fünfhundert Wersten machen? Auch konnte ja die Entscheidung des Monarchen auf mein Memorial noch lange nicht eintreffen. Mir blieb also nur die schreckliche Wahrscheinlichkeit, daß ich von Tobolsk aus noch tiefer in das Land gebracht werden sollte, vielleicht wohl gar in die Bergwerke, vielleicht nach Kamtschatka. Ich stand bebend da, suchte mich zu fassen, ergriff schnell das Heft, an dem ich geschrieben hatte, rannte nach meinen noch übrigen Banknoten, knöpfte beides in meine Unterweste und erwartete nun wenigstens zehn Minuten lang in Todesangst mein Schicksal. Diese zehn Minuten gehörten unter die schrecklichsten, die ich während meines Unglückes erlebt hatte![201]

Endlich sah ich durch das Fenster den Hofrat de Grawi, von einer Menge Menschen umgeben, die Straße heraufkommen; und aus dem Haufen ragte der Dragoner mit seinem Federbusche auf dem Hute hervor. Sie waren noch zu weit, als daß ich den Ausdruck der Gesichter hätte unterscheiden können; ich stand also noch immer halb leblos da und erwartete mein Todesurteil.

Noch einmal wankte ich im Zimmer auf und ab, dann wieder an das Fenster. Der Haufe war näher gekommen; ich sah de Grawis Gesicht sehr heiter. Es blitzte ein Hoffnungsstrahl in meine Seele; aber noch lag die ganze Welt auf mir.

Jetzt war die Menge in den Hof getreten. De Grawi sah herauf, bemerkte mich und nickte mir freundlich zu: die drückendste Last fiel von meiner Brust. Ich wollte hinaus, ihm entgegen; ich konnte aber nicht, stand fest auf meinem Platze und hatte die Augen starr auf die Stubentür geheftet. Sie öffnete sich. Ich wollte fragen; auch das konnte ich nicht.

»Posdrawleju!« rief de Grawi mir entgegen, und die Tränen rollten dem alten Manne über beide Backen: »posdrawleju! wui swobodni!« – Ich wünsche Ihnen Glück! Sie sind frei!

Mit diesen Worten lag er auch schon in meinen Armen. Ich sah und hörte nicht, ich fühlte nur seine Tränen an meiner Wange; mein eigenes Auge war trocken. Posdrawleju! schallte es von hundert Stimmen um mich her; ein jeder wollte der erste sein, mich zu umarmen, und auch mein Bedienter drückte mich mit Ungestüm an seine Brust. Ich ließ alles mit mir machen, sah sie alle an und konnte ihnen nicht danken, ja nicht einmal reden.[202]

Der Dragoner überreichte mir einen Brief des Gouverneurs. Ich erbrach ihn schnell und las folgendes:


Monsieur!

Réjouissez-Vous, mais modérez Vos transports; la faiblesse de Votre santé l'exige. Ma prédiction s'est accomplie. J'ai la douce satisfaction de Vous annoncer, que notre très-gracieux Empereur désire Votre retour. Exigez tout ce qui Vous est nécessaire, tout Vous sera procuré, l'ordre en est donné. Volez, et recevez mes compliments.

Votre

très-humble serviteur

D. Kochéleff

le 4 Juillet


Jede Zeile grub sich tief in mein Herz! – Der Gouverneur schickte mir zugleich ein Pack Zeitungen und ein kleines Glückwünschungsbriefchen von dem Kaufmann Becker, der eben zugegen war, als der Dragoner abgefertigt wurde, und der mir sehr dringend seine Wohnung zum Absteige-Quartier in Tobolsk anbot.

De Grawi zog jetzt auch seine russische Order aus der Tasche und las sie mir vor. Sie enthielt den Befehl, mich mit allem, was ich verlangen würde, auch mit Geld, zu versehen, und mich so bald als möglich abzufertigen.

Noch immer war ich stumm; aber endlich stürzte ein wohltätiger Tränenstrom aus meinen Augen: ich weinte laut, heftig und lange; die meisten Zuschauer weinten mit mir.

Plötzlich stürzte Sokolow ins Zimmer, hing an meinem Halse und vergoß bittersüße Tränen. »Ich bleibe nun wieder allein!« sagte er mit tiefer Wehmut, »aber bei Gott, ich freue mich herzlich.«[203]

Alle Einwohner von einiger Bedeutung hatten sich um mich versammelt: das Zimmer war gedrängt voll; jeder wollte mir seine Freude bezeugen, jeder mir etwas Angenehmes sagen. Der biedre de Grawi fühlte, daß mir das Gedränge lästig werden mußte. Er entfernte nach und nach den Haufen und bat mich, bei ihm zu essen. Ach Gott! Essen und trinken konnte ich nicht. Ich wünschte nur allein zu sein. Er fragte, wann ich reisen wolle. »In zwei Stunden,« war meine Antwort. – Was ich bedürfe? – »Nichts als Pferde!« Er ging lächelnd, und ich war endlich allein.

Wie mir zu Mute war, kann ich nicht beschreiben. Die Knie zitterten mir noch mehrere Stunden nachher; und doch konnte ich mich nicht setzen: ich mußte immer gehen, auf und nieder gehen. Gedanken hatte ich nicht, nur Empfindungen: schnell aufeinanderfolgende Vorstellungen, ohne deutlichen Umriß; es war mir, als ob meine Frau und meine Kinder immer in einer Wolke vor mir schwebten. Ich fühlte bald, daß meine Empfindungen schwelgten, daß ich erschöpft war. Nun wollte ich etwas denken, Betrachtungen anstellen, Zeitungen lesen, die ich sonst so gern las – aber alles vergebens! Von Zeit zu Zeit flossen meine Tränen wieder, und der Ausruf: o Gott! Gott! war alles, was ich hervorbringen konnte.

Als ich endlich der Ruhe und Unruhe wieder fähig wurde, mischten sich auch einige Wermutstropfen in den Becher meines Entzückens. Der Dragoner, dem ich im ersten Aufruhr der Freude mehr gab, als ich eigentlich geben konnte, hatte mir erzählt, es sei ein Senatskurier aus Petersburg gekommen, um mich zurückzuholen. Da aber seine Order nur auf Tobolsk laute, so habe er auch[204] nicht weiter reisen wollen und deshalb sei es dem Gouverneur nicht möglich gewesen, mir den Rückweg dahin zu ersparen. Dieses Rätsel war mir also gelöst. Eine andere, mir weit wichtigere Frage konnte der Dragoner nicht beantworten. »Hat der Kurier Briefe von meiner Frau? Hat er wenigstens irgendeine Nachricht von ihr mitgebracht?« – Ach, das wußte er nicht! Und es war mehr als wahrscheinlich, daß auch der Kurier weder Briefe noch Botschaft an mich hatte, denn sonst würde der menschenfreundliche Gouverneur gewiß etwas davon erwähnt haben. Wußte er doch, wie unaussprechlich ich die Meinigen liebte, hatte er doch meine heißen Tränen um sie gesehen, ja die seinigen damit vermischt! Und er schwieg – hatte mir vielleicht etwas Schreckliches zu verschweigen!

Ich war sinnreich, mich zu quälen. Ein Glück, daß die Reiseanstalten mich zerstreuten. Nichts konnte mein Italiener mir rasch genug machen. Meine Ungeduld war kindisch. Es wurde alles drüber und drunter in den Mantelsack gepackt und in das Kibitken geworfen. Ich eilte indessen, die letzte Pflicht zu erfüllen und von den guten Menschen in Kurgan dankbaren Abschied zu nehmen. Daß ich mich bei jedem nur wenige Minuten aufhielt, ist begreiflich. Bei dem wackern de Grawi blieb ich am längsten, und er forderte sogar noch ein Opfer von mir, das mir sehr schwer wurde, das ich aber seinen dringenden Bitten unmöglich versagen konnte. Den 7ten Julius war nämlich gerade ein Kirchenfest, dessen Bedeutung ich nicht so eigentlich habe erraten können. Die Feier desselben bestand hauptsächlich darin, daß der Heilige eines benachbarten Dorfes in effigie nach der Stadt gebracht wurde, daß der Stadtheilige ihm[205] höflich bis an seine Grenze entgegen kam, dann mit ihm umkehrte, den fremden Gast in seinen Tempel führte, ihn dort mit einigen Gebeten und Gesängen bewirtete und ihn dann abends wieder entließ. Den Stadtheiligen begleiteten bei dieser kleinen Exkursion die sämtlichen Einwohner singend. Der fromme de Grawi hielt es für Pflicht, an ihrer Spitze zu sein; und diese Zeremonie war es, an welcher ich – mochte ich wollen oder nicht – noch Anteil nehmen mußte. Er versicherte, es werde kaum eine halbe Stunde dauern; und ich ging mit ihm.

Von sechs hübschen Bauernmädchen getragen und von einem bärtigen Popen beräuchert, kam uns der Dorfheilige an der Stadtgrenze entgegen. Alles sang und schlug Kreuze. Die Bilder neigten sich höflich gegeneinander. Wir machten links um; der Fremdling zog ein in das Haus seines Gastfreundes, und ich eilte nach dem meinigen, um die letzten Verfügungen zu treffen.

Dort fand ich schon meinen guten Sokolow, der schweratmend auf und nieder ging. Noch am Abend vorher hatten wir darüber gesprochen, daß, wenn je einer von uns seine Freiheit wieder erlange, der Zurückbleibende doch sehr unglücklich sein werde. Nun war der Fall wirklich eingetreten; wir sprachen aber nicht mehr davon. Ich schenkte ihm meine Flinte, die Patrontasche, den Munitionsvorrat und alles, was ich sonst entbehren konnte. Er nahm es schweigend, und in seinen feuchten Augen las ich: es wäre doch besser, wenn du bei mir bliebest! Ich bat ihn, mir Briefe an seine Familie mitzugeben, welche sicher zu bestellen ich für meine heiligste Pflicht halten würde; aber seine unbegreifliche Gewissenhaftigkeit ließ nicht einmal das zu. Er wollte durchaus dem harten Befehle nicht zuwiderhandeln: er setzte[206] ein Verdienst darin, alles zu dulden und auch nicht die kleinste Blöße zu geben.

Es verbitterte meine Freude nicht wenig, daß dieser rechtschaffene Mann durch meine Anwesenheit in Kurgan offenbar unglücklicher geworden war als vorher. Durch mich hatte er sich wieder an manche Bequemlichkeiten des Lebens, an geselligen Umgang, an Freundschaft gewöhnt; mir konnte er klagen, bei mir fand er immer offene Ohren: und nun war er wieder allein in dieser Wüste! Ich hatte ihn aus seinem Loche ziehen, ihn für den Winter bei mir einquartieren wollen: und nun mußte er wieder zurück in seine Rauchhöhle. Weinend drückte ich ihn an mein Herz; er schlich weinend aus der Stube. Ich habe ihn nicht wieder gesehn. Denn als bald nachher fast alle Einwohner des ganzen Städtchens sich zum Abschied in meinem Hofe versammelten, war Simon Sokolow nicht mehr unter ihnen.

Noch wohl eine Stunde mußte ich auf Pferde warten. Nie habe ich eine größere Ungeduld empfunden. Kaum war ich imstande, die gutmütigen Äußerungen der Einwohner zu erwidern. Der eine hatte Punsch machen lassen, der andere brachte mir Viktualien, der dritte eine Menge Gurken. Ich hätte neben meinem Kibitken her gehen müssen, wenn ich alles hätte hinaufpacken wollen. Gott segne euch, ihr guten Menschen! Ich werde euch hoffentlich nie wiedersehen; aber das Andenken an eure herzliche, anspruchlose Gastfreundschaft trage ich bis zum Grabe dankbar in meiner Brust!

Endlich war angespannt; ich wurde ringsum geherzt, gedrückt und in das Kibitken gehoben. Der alte gute de Grawi setzte sich zu mir, denn er wollte mich durchaus wenigstens bis vor die Stadt begleiten. Fromme Wünsche[207] schallten mir nach, als wir fuhren; und ich schwamm in einem Meere von Wonne.

Als wir fast zwei Werste zurückgelegt hatten, ließ de Grawi halten, bog sich über mich, küßte mich, weinte, drückte mir die Hand, ging, kam wieder, schüttelte mir die Hand, sagte schluchzend nur die Worte: S'bogom! (mit Gott!) und verließ mich. Ich richtete mich in die Höhe, sah ihm lange nach, betrachtete wehmütig die Stadt, warf den bösen Traum meiner Leiden hinter mich und fuhr in gestrecktem Galopp davon.

Dieses Mal war ich nicht gezwungen, meinen Rückweg über Tjumen zu nehmen; denn die Gewässer hatten sich zum Teil verlaufen. Mit meiner Mückenkappe über dem Kopfe – denn ohne die ist es unmöglich, in dieser Jahreszeit durch jene Gegenden zu reisen – fuhr ich die Nacht rasch durch. Die dortigen Mücken gleichen ganz den unsrigen, nur daß sie gelb und – so kam es mir wenigstens vor – noch weit unverschämter und gefräßiger sind.

Gegen Morgen schlummerte ich einen Augenblick ein, und mein erstes Erwachen war ein neuer froher Genuß. Ich brauchte eine Minute, um mich zu besinnen, was mit mir vorgegangen sei; aber diese Minute, in der sich nach und nach die Idee meiner Freiheit entwickelte, war himmlisch!

Am 9ten, morgens früh, kam ich auf die letzte Station vor Tobolsk. Hier hatte die Höhe der Frühlingsgewässer nur noch sehr wenig abgenommen, und ich mußte die letzten vier Meilen wie bei meiner ersten Ankunft in einem elenden Boote zurücklegen. Aber ich hatte herrliches, heiteres Wetter, gerade wie damals, und meine Empfindungen waren ebenso heiter. Ich sah alle die bekannten[208] Gegenstände mit ganz andern Augen wieder; meine Seele glich der Spiegelfläche, auf der ich sanft hinschwamm.

Um zehn Uhr vormittags betrat ich das Ufer von Tobolsk. Obgleich der gute Becker mich in seine Wohnung eingeladen hatte, so war ich doch zweifelhaft, ob ich die Einladung annehmen sollte, da es bei der überall herrschenden ängstlichen und notwendigen Vorsicht dem Gouverneur vielleicht unangenehm sein konnte.

Ich ging also lieber gerade wieder nach meinem alten Quartiere, wo ich von dem Wirte mit großer Freude empfangen und in eben das Zimmer geführt wurde, welches während meiner Abwesenheit schon wieder ein andrer Unglücklicher bewohnt hatte. Ich ließ dem Gouverneur durch den Dragoner meine Ankunft melden und warf mich schnell in andre Kleidung, damit ich diesem bald folgen könnte.

Der nach mir gesandte Kurier namens Carpov wohnte in demselben Hause, war aber ausgegangen; ich mußte daher die sehnsuchtsvollen Fragen nach den Meinigen noch auf dem Herzen behalten und eilte zu dem edlen Kuschelew! Ich traf ihn wie das erste Mal im Garten. Er drückte mich herzlich an seine Brust; die Freude glänzte in seinen Augen.

Meine erste Frage war nach Frau und Kind. Ach, er wußte von nichts, suchte mich aber durch allerlei Scheingründe zu beruhigen. Er zeigte mir den mich betreffenden Ukas, der in wenigen Zeilen einen von dem Generalprokureur geschriebenen Befehl enthielt, »den unter seiner Aufsicht gestandenen Kotzebue augenblicklich in Freiheit zu setzen, ihn nach Petersburg zu senden und ihn auf Kosten der Krone mit allem, was er[209] brauchen und begehren werde, zu versehen«. Der Kurier war noch überdies angewiesen, alle Kosten der Reise zu bezahlen.

Dieser Order zufolge fragte mich nun der Gouverneur, was ich bedürfe. Ich hatte noch einige hundert Rubel und wollte daher anfangs gar nichts nehmen. Doch das konnte Trotz scheinen; und da der Kaiser nun einmal so wohlwollende Gesinnungen für mich geäußert hatte, so konnte er empfindlich darüber werden, wenn ich sein Anerbieten gleichsam verschmähte. Auf der andern Seite fürchtete ich aber, zu viel zu fordern; und ich wollte ebenso wenig unverschämt als trotzig scheinen. Der Gouverneur fand meine Bemerkungen sehr richtig. Als ich ihn um seinen Rat ersuchte, meinte er, wenn ich dreihundert Rubel nähme, so würde ich die rechte Mittelstraße treffen. Dabei blieb es also, und ich hatte nun keinen andern Wunsch mehr als den, in zwei Stunden abgefertigt zu werden. Der Gouverneur wollte mich durchaus noch einige Tage dabehalten. Als ich ihm aber ziemlich lebhaft antwortete, daß ich jede Stunde des Verzugs als meiner Frau gestohlen ansähe, gab er augenblicklich nach, wandte sich mit Rührung zu seiner Freundin und übersetzte ihr, was ich gesagt hatte. Hierauf versprach er, meine Abreise zu beschleunigen, erbot sich auch, mir meinen Wagen zurückzukaufen. Das letztere schlug ich aus und wollte lieber in einem unbequemen Kibitken reisen, weil ich nicht Lust hatte, mich alle Augenblicke wegen Reparaturen unterwegs aufzuhalten.

Indes ging es mit meiner Abfertigung doch nicht so schnell, als ich wünschte. Die Auszahlung der dreihundert Rubel – auf die ich gern Verzicht getan hätte – erforderte[210] verschiedene Formalitäten: es mußte deshalb von der Regierung an den Kameralhof geschrieben werden. Dieser blieb nur bis zu Mittag versammelt; daher war es heute schon zu spät, und mit großem Widerwillen mußte ich mich nun entschließen, die Nacht in Tobolsk zuzubringen.

Ich aß bei dem Gouverneur, besuchte nachher meine Freunde Kinjakow, Becker und den wackern Peterson, die mich alle mit ungeheuchelter Freude empfingen, und ging dann nach Hause, wo ich endlich meinen Kurier antraf, der mir aber leider auch kein Wort von meiner Familie zu sagen wußte. Aus der ihm erteilten Spezial-Instruktion, welche er mir zu lesen gab, sah ich nun wohl, daß man von dem mir zugefügten Unrecht in Petersburg völlig überzeugt sein müsse. Denn es war ihm darin auf das angelegentlichste empfohlen, für mich auf der Reise Sorgfalt zu tragen und mir Wsjakie Udowolstwie zu erzeigen, das heißt: alles zu tun, was mir Vergnügen machen könne. Dazu hatte man nun aber eben nicht den rechten Mann gewählt. Denn Herr Carpov war ein unerzogener, tölpischer junger Mensch, so bequem und faul wie ein Schoßhund. Er bekümmerte sich um nichts; ihm war es ganz gleichgültig, ob wir schnell oder langsam fuhren. Auch hatte er gar nicht das Leuten seiner Art sonst sehr eigne Talent, die Posthalter, Postillione usw. durch ein herrisches, insolentes Wesen, durch Schimpfen und Drohungen anzuspornen. Das merkte man ihm überall sogleich ab, und seine nie zu erschütternde Indolenz stellte in der Folge meine Geduld auf harte Proben. Sonst war er ein recht guter Mensch, ein verdorbener Apothekerbursche, der vortrefflich hinter den Ofen taugte, um bei seiner Mama[211] Butterbrot zu essen. Es war ihm auch gar nicht recht, daß er sich in Tobolsk nicht noch ein paar Wochen gütlich tun konnte. Dabei hatte er ein sehr begehrliches Gemüt: denn ich schenkte ihm bei unserer ersten Zusammenkunft hundert Rubel; und dies Geschenk schien noch unter seiner Erwartung zu sein.

Ich schlief diese Nacht zum ersten Male sanft und ruhig und erwachte früh mit der frohen Hoffnung, um neun Uhr abzusegeln, wozu ich bereits eine Barke gedungen hatte. Aber leider dauerte es noch bis gegen Abend, ehe wegen der unbedeutenden Summe von dreihundert Rubeln alles geschrieben, unterschrieben und gesetzlich berichtigt wurde. Vielleicht darf ich das für ein Glück halten, so unangenehm es mir auch damals war; denn wir hatten den ganzen Tag die heftigsten Gewitter, die mir auf dem Wasser leicht hätten gefährlich werden können. Auch gewann ich noch einen andern Vorteil durch diese Verzögerung. Ich hatte nämlich aus Gefälligkeit versprochen, den Sohn eines deutschen Schneiders als Bedienten mit nach Petersburg zu nehmen. Man verschwieg mir aber, daß dieser junge Mensch täglich mit epileptischen Zufällen behaftet war, und so würde ich einen sehr beschwerlichen Reisegefährten an ihm gehabt haben, wenn durch meinen längeren Aufenthalt die Krankheit sich nicht von selbst verraten hätte.

Unfreiwillig verschmauste ich diesen Tag noch bei meinen Freunden. Es war schon Abend, als man endlich alles in Richtigkeit gebracht hatte; doch ein sehr stürmisches Wetter und die hereinbrechende Nacht zwangen mich, noch einige Stunden aufzuopfern. Ich setzte meine Abreise um drei Uhr morgens fest und warf mich angekleidet auf das Bett.[212]

Daß ich von allen im Hause zuerst erwachte oder vielmehr, daß ich so gut wie gar nicht schlief, wird man mir leicht glauben. Mit der ersten Morgenröte sprang ich auf und trieb meinen faulen Carpov aus dem Bette. Zwar hatte der Sturm eher zu- als abgenommen; doch unmöglich konnte ich noch länger verweilen. Um vier Uhr standen wir am Ufer des Irtisch, und ich sah mit freudigem Taumel mein Fuhrwerk in den heftig schwankenden Kahn bringen. »Wird die Fahrt gefährlich sein?« fragte ich den Steuermann. – »Nje otschen opasno (nicht sehr gefährlich),« gab er mir zur Antwort, die eben nicht sehr tröstlich war. Doch die Sehnsucht überwog bei weitem die Furcht, und – was auch meine Begleiter dagegen einwandten – ich bestand auf der Abreise.

Mein Italiener war mir bis ans Ufer gefolgt. Er nahm dem Anscheine nach gerührt von mir Abschied. Doch wenn seine Rührung nicht erkünstelt war, so entsprang sie wohl nur aus der Vorstellung, daß er mich in Zukunft nicht mehr bestehlen könne. Denn ob ich ihm gleich außer dem versprochenen Lohn noch ein sehr reichliches Geschenk gab, so fand ich doch einige Tage nachher, als ich meinen Mantelsack aufschnallte, daß er meine ohnehin sehr geringen Habseligkeiten christlich mit mir geteilt hatte: geteilt im eigentlichsten Sinne des Wortes; denn von allem vermißte ich gerade die Hälfte, und sogar ein Bettlaken hatte er mitten voneinander getrennt. Ich wünsche, daß er sanft darauf ruhen möge, und zweifle auch nicht an der Erfüllung dieses Wunsches. Denn was man Gewissen zu nennen pflegt, das kannte sein starker Geist nicht.

Endlich-endlich stießen wir vom Ufer! Mit wehmütiger Freude sah ich den Raum zwischen mir und der Küste[213] sich ausdehnen. Ich heftete meine Blicke fest auf die nach und nach schwindenden Häusermassen von Tobolsk und würde ein paar selige Stunden in sanfter stummer Empfindung verschwelgt haben, wenn nicht der wachsende Sturm, das entsetzliche Schwanken des Bootes und das Wechselgeschrei zwischen Ruderern und Steuermann mich nur zu oft aus meinen süßen Träumereien geweckt hätten.

Endlich – nach einer Fahrt von mehr als sieben Stunden – gelangten wir glücklich an das jenseitige Ufer. Und hiermit hatten wir auch alle Beschwerlichkeiten zu Wasser überstanden: denn alle die unzähligen Überfahrten über ausgetretene Ströme, die mir im Frühling die Hinreise so sehr erschwerten, waren jetzt nicht mehr vorhanden. Die finstere Tura, die schöne Kama, die majestätische Wolga, die schnelle Wjatka waren bereits in ihr Bett zurückgetreten und schienen hülfreich einverstanden, mich schnell an mein erseufztes Ziel zu tragen. Doch ehe ich noch Tjumen erreichte, drohte mir eine andere Gefahr; ich wurde nämlich krank, recht sehr krank. Die Ursache weiß ich nicht; aber die Zufälle waren so, wie ich sie nie vorher gehabt hatte. Jede Erschütterung fühlte ich so schmerzhaft, daß ich genötigt war, selbst auf dem ebensten Wege nur Schritt für Schritt fahren zu lassen. Außer einem Limonadenpulver hatte ich gar keine Arzenei bei mir. Zwar wollte der gute Peterson in Tobolsk mich damit versorgen; ich hielt es aber für unmöglich, auf einer so fröhlichen Reise krank zu werden, und vernachlässigte alle Vorsicht. Auch hätte ich nicht gewußt, was ich einnehmen sollte, da ich diese Art von Krankheit nie gehabt hatte. Ich litt also geduldig und quälte mich mit dem Gedanken, vielleicht,[214] so nahe am Ziele, dennoch meine Familie nicht wiederzusehen.

So schleppte man mich bis Tjumen, wo wir nachmittags ankamen. Mein Kurier riet mir, hier liegen zu bleiben und mich zu pflegen; ich widersetzte mich aber dem ernstlich. Welche Bequemlichkeit oder Pflege konnte ich auch dort erwarten? Sollte ich mich einem unwissenden Chirurgus anvertrauen? Denn ein Arzt war da nicht. Ich beschloß, lieber auf gut Glück weiterzufahren. War ich doch der sibirischen Grenze nun so nahe. Wenigstens wollte ich jenseits sterben!

Wir fuhren also weiter. Doch mein Zustand verschlimmerte sich in kurzem so sehr, daß ich auf der zweiten Station die Bewegung nicht mehr aushalten konnte und in einem elenden Dorfe liegen bleiben mußte. Es war Abend. Ich ließ mir, so gut es gehen wollte, ein Lager in meinem Kibitken bereiten und versuchte, ob ich schlafen könnte. Dieser Versuch mißlang gänzlich; dagegen ermannte sich die Natur in dieser Nacht. Zwar bedurfte sie dazu einer sehr schmerzlichen Gewalt; aber dieser Krisis verdanke ich vielleicht die Gesundheit, die ich während des folgenden Winters in einem reicheren Maße genoß als vorher seit zwölf Jahren.

Ich setzte am folgenden Morgen freilich noch sehr schwach, aber doch in einem merklich besseren Zustande meine Reise fort und kam um zehn Uhr vormittags an den Tobolskischen Grenzpfahl mitten im Walde, den ich auf meiner Hinreise mit so fürchterlicher Beklemmung betrachtet hatte.

Als wir damals Moskau verließen, war es mir vergönnt, mich mit einigen Bouteillen Wein zur Erquickung zu versorgen. Ich kaufte Burgunder. Da aber in Moskau[215] die Bouteille vier Rubel kostete, so erlaubte meine Kasse mir nicht, mehr als drei Bouteillen mitzunehmen, die ich mir für kranke Tage aufsparte. Fast zwei derselben waren geleert, als ich in Tobolsk ankam. Die dritte begleitete mich nach Kurgan; ich verwahrte sie als einen Schatz und bestimmte sie, an dem Tage, an welchem meine Frau zu mir kommen würde, das Freudenfest zu verherrlichen. Jetzt aber – im Angesicht des sibirischen Grenzpfahls – zog ich sie hervor. Mit einem Korkzieher, den meine gute Mutter mir am letzten Weihnachtsfeste schenkte und der bis heute ungebraucht in meinem Kasten gelegen hatte, öffnete ich sie. Jubelnd trank ich daraus in langen Zügen, indem mir zugleich die Tränen über die Wangen rollten. Der Kurier und der Postillion mußten mittrinken. Die leere Flasche zerschlug ich gegen den Pfahl, und mit leichter Brust, als sei nun alles überstanden, fuhr ich singend weiter.

Je mehr ich stündlich an Gesundheit und frohem Mute gewann, je stärker wurde meine Begierde, die Reise zu beschleunigen. Aber zwei Hindernisse erschwerten die Eil. Das erste war mein gebrechliches Kibitken. Ich hatte es alt gekauft und nun, die Hin- und Herreise von und nach Kurgan mitgerechnet, bereits fast zweihundert deutsche Meilen damit zurückgelegt. Es wurde von Stunde zu Stunde knarrender und wackelnder. Alles verkündigte seine baldige Auflösung. Wohl schon ein dutzend Mal hatte ich anhalten müssen, um bald dies, bald jenes daran flicken zu lassen. Ich sah den Augenblick herannahen, wo ich auf der Landstraße liegen bleiben würde, und entschloß mich daher kurz und gut, das gebrechliche Fuhrwerk auf der nächsten Station zurückzulassen und meinen Weg lieber in einem Postkibitken[216] fortzusetzen. Freilich ist ein solches Postkibitken das elendeste, unbequemste Fuhrwerk, selten einmal bedeckt gegen ungestüme Witterung, auch zu kurz, als daß man die Beine darin ausstrecken könnte, und auf jeder Station wird es gewechselt, auf jeder das Gepäck hin und her geworfen. Vergebens hat sich der Reisende in kühlen Nächten in die Betten verkrochen: kaum ist es ihm gelungen, sich zu erwärmen, so muß er heraus, das Wetter sei, welches es wolle. Wenn es regnet, so werden seine paar Kissen durch und durch naß; er muß sich wieder darauflegen und sie mit seinem Körper trocknen. Wahrlich, es gehört viel Abhärtung dazu, eine lange Reise auf diese Art gesund zu vollbringen.

Das alles stellte mein Kurier mir bündig vor. Er selbst litt zu sehr bei der Veränderung, um nicht seine ganze Beredsamkeit aufzubieten. Aber ich hatte berechnet, daß ich vielleicht einen ganzen Tag und mehr dabei gewinnen könne und daß ich also meine Familie einen ganzen Tag früher wiedersehen würde. Die Möglichkeit, daß meine gute Christel krank, vielleicht gefährlich krank sei, daß meine Ankunft wohltätig auf sie wirken, daß ihr Leben an einer einzigen Stunde früher oder später hangen könne, überwog alle Bedenklichkeiten. Ich erkundigte mich auf der nächsten Station nach dem ärmsten Manne im Dorfe; ihm schenkte ich mein Fuhrwerk und räumte so das erste Hindernis aus dem Wege.

Das zweite war schwerer wegzuschaffen; denn – wie sollte ich meinem faulen Carpov Leben und Tätigkeit einhauchen? Da half weder Spott noch Zorn, da halfen weder Geschenke noch Drohungen; seine Indolenz war unüberwindlich. Immer gähnte, immer schlief er; kommst du heute nicht, so kommst du morgen. Man hätte zu[217] meiner Qual keinen faulern Tölpel wählen können als diesen, der mich oft zur Verzweiflung brachte.

In dieser Not erschien endlich mir zum Trost ein anderer Kurier namens Wassili Sukin. Auch er war Hals über Kopf aus den Vorzimmern des Kaisers nach Tobolsk geschickt worden, um einen Kaufmann zu befreien, den vor acht Jahren der allgewaltige Fürst Potemkin dahin geschickt hatte. Dieser Mann saß in Pelim, wenn ich nicht irre noch tausend Werste weiter, und als ich Tobolsk verließ, wartete Sukin noch immer auf seine Ankunft. Er kam endlich erst einige Tage nach meiner Abreise. Seine Füße waren geschwollen und mit Wunden bedeckt; aber auch ihm ließ die Ungeduld nicht zu, die Heilung abzuwarten: er reiste, und – Dank sei es meinem faulen Carpov! – schon unweit Jekaterinburg holte er mich ein.

Von nun an ging es schneller und besser. Denn Wassili Sukin war ein flinker, freundlicher junger Mann, dem alles rasch vonstatten ging, der willig und dienstfertig überall den Vorspann besorgte, im Notfalle selbst die Peitsche zur Hand nahm und bei Menschen und Vieh die Faulheit kräftig austrieb. Jetzt hatte mein Carpov weiter nichts zu tun, als hinter ihm herzufahren. Doch auch so blieb er oft ganz zurück, und meistenteils kamen wir eine Viertelstunde später an Ort und Stelle. Aber dann fanden wir auch die Pferde bereits angeschirrt, und es ging lustig vorwärts. Wahrlich, ohne diesen muntern Sukin wäre ich acht Tage später in Petersburg eingetroffen.

Noch ein Wort von dem russischen Kaufmann, den er begleitete. Er war vormals Kron-Podredschik gewesen – so heißen diejenigen, welche Lieferungen oder Baue[218] gegen eine gewisse bestimmte Summe übernehmen – und hatte ein großes Vermögen, ein Haus in Petersburg und ein andres in Moskau besessen. Da man ihn mit einigen ansehnlichen Zahlungen sehr lange hinhielt und ihm allerlei Schikanen machte, bei welchen Potemkin selbst mit im Spiele war, so erlaubte er sich einige lebhafte Äußerungen in dem Vorzimmer des Fürsten und wurde auf der Stelle nach Sibirien transportiert, nachdem man ihm vorher alles, sogar seinen Pelz, geraubt hatte. Dort in dem fernen Pelim, wo er sein Brot als der gemeinste Knecht kümmerlich verdienen mußte, wurde er vergessen; ja, er wollte sogar wissen, daß man ihn einmal als tot rapportiert habe. Um so größer war sein Erstaunen und sein Entzücken, als plötzlich der Bote der Freiheit anlangte. Wie das zuging, wie und durch wen der Kaiser an ihn erinnert worden war? Das konnte er sich nicht erklären. Auch er hatte Frau und Kind ohne Abschied verlassen; und weder von diesen, noch von seinem Vermögen war ihm seit acht Jahren das geringste zu Ohren gekommen. Man denke sich seine Sehnsucht! Er war schwach und krank; auf jeder Station mußte er sich seine Füße verbinden. Aber nie ging es ihm rasch genug, und er ließ sich keinen Augenblick der Verzögerung zuschulden kommen.

Am 15ten Julius kamen wir nach Jekaterinburg und genossen einige Erquickung. Dort kaufte ich auch mehrere sibirische edle Steine, die in der dasigen Steinschleiferei geschliffen worden und sehr wohlfeil waren. Ich bestimmte sie zu zwei Halsbändern für meine Töchter und für meine Erben auf Kindeskind, daß sie sich der unglücklichsten Begebenheit in dem Leben ihres Vaters dabei erinnern sollen.[219]

In Kungur, einer sehr schlecht gepflasterten Stadt, durch welche wir einige Tage nachher kamen, hätte ich fast mein Leben eingebüßt. Wir fuhren in vollem Galopp eine Anhöhe hinunter. Plötzlich brach mir die Achse, das Kibitken schlug um, die Pferde rannten fort, und mein Kopf schleifte auf den Steinen. Der Hut schützte mich zwar einige Augenblicke, wäre aber nicht glücklicherweise gerade Markttag in Kungur gewesen und hätten die vereinigten Kräfte der zahlreich versammelten Bauern die scheu gewordenen Pferde nicht aufgehalten, so würde ich verloren gewesen sein. Nur noch fünfzig Schritt weiter, und meine Hirnschale mußte zertrümmern. Jetzt kam ich mit einigen starken Kontusionen davon. Der Postillion war mehr als beschädigt und blutete heftig; mein fauler Carpov aber, der zu seinem Glücke nur mit heraushängenden Beinen auf dem Kibitken gesessen hatte, war sogleich heruntergefallen und lag sanft im Kote.

Am 18ten kamen wir nach Perm, wo ich wieder bei dem ehrlichen Uhrmacher Rosenberg einkehrte und auf demselben Sofa sanft ruhte, auf welchem ich mich zwei Monate vorher verzweifelnd gewälzt hatte.

Der Weg von Perm nach Kasan wurde ohne Zufall zurückgelegt und meine hoffnungsvolle Heiterkeit nur dann und wann durch den Anblick von Verwiesenen unterbrochen, die mir häufig begegneten. Einige fuhren wie ich vormals in Wagen und Chaisen; andere in unbedeckten Kibitken; die meisten gingen zu Fuß, zwei und zwei mit Ketten aneinander geschlossen und von bewaffneten Bauern begleitet: so werden sie nämlich von Dorf zu Dorf transportiert und die Wache in jedem Dorfe abgelöst. Noch andere trugen um den Hals eine[220] hölzerne Gabel, deren dicker Stiel ihnen über die Brust herab bis auf die Knie hing; und in dem Stiele waren zwei Löcher angebracht, durch welche man ihre Hände gezwängt hatte. Ihr Anblick war fürchterlich. Alle diese Fußgänger baten kläglich um Almosen; und ach, wie gern gab ich – der Befreite, ich, der ich den Armen meiner Familie entgegen eilte – wie gern gab ich, was ich hatte!

Auch lange Züge von Kolonisten begegneten mir. Sie waren dazu bestimmt, die neue Stadt zu bevölkern, welche auf des Kaisers Befehl an der Grenze von China angelegt wird. Die erwachsenen Personen gingen zu Fuß; die Kinder, klein und groß, sahen aus den Fuhrwerken zwischen Kisten und Kasten, zwischen Hühnern und Hunden hervor. Ich kann nicht sagen, daß ich fröhliche Gesichter unter diesen Kolonisten bemerkt hätte.

Am 22sten Julius war ich mittags in Kasan und wohnte diesmal in einem sehr schönen, zu öffentlichen Lustbarkeiten bestimmten Hause, bei einer sanften, gefälligen Wirtin, unterließ aber auch nicht, meinen ehrlichen Justifei Timofeitsch in seiner Tarakanen-Wohnung aufzusuchen und ihm für die erwiesene Gastfreundschaft nochmals zu danken.

Was mich besonders bewog, diesen Tag in Kasan zu verweilen, war eine leibliche Kusine meiner Frau, welche daselbst verheiratet ist. Ich wußte, daß sie mit ihrer Familie in Estland korrespondierte; bei ihr hoffte ich also die Sehnsucht meines Herzens zu stillen und Nachricht von meiner Christel zu erhalten. Mit Zittern betrat ich ihr Haus und wurde sehr liebreich empfangen; aber ach, auch hier kein Trost! Sie wußte nichts, gar nichts von meiner Familie. Zwar hatte ihr erst vor kurzem[221] einer ihrer Brüder geschrieben und ihr mehrere unbedeutende Familiennachrichten mitgeteilt, z.B. daß die Schwester meiner Frau, die Baronin Dellingshausen, nach Deutschland reisen werde; aber von meiner guten Christel nicht eine Silbe. Hätte der unfreundliche Mann gewußt, welche bittere Empfindung er mir durch dieses Schweigen verursachte, er würde seine übertriebene Bedenklichkeit besiegt und wenigstens mit einigen, für Fremde nichts bedeutenden Worten ganz ohne Erwähnung meines damals verhaßten Namens gesagt haben: Unsere Kusine Christel ist da oder dort; so oder so geht es ihr. – Indessen schöpfte ich doch eine Hoffnung aus seinem Briefe: tot, dachte ich, kann sie nicht sein; denn das würde er doch geschrieben haben.

Meine Aufnahme in Kasan überraschte mich höchst angenehm. Bekannte und Unbekannte, Deutsche, Franzosen und Russen drängten sich mit freundlicher Neubegier zu mir, und alle wetteiferten, mir ihr Wohlwollen zu bezeigen. Sie hatten vor zwei Monaten etwas von meiner Durchreise gehört und sich viele Mühe gegeben, mein damaliges Nachtquartier zu er fahren; aber vergebens! Mein wackerer Hofrat hatte seine Maßregeln zu gut genommen.

Als ich abreiste, begleiteten mich ein halbes Dutzend Wagen und Droschken bis an die Ufer der Wolga, deren Gewässer jetzt nicht mehr [wie bei meiner Hinreise] die Mauern der Stadt bespülten, sondern sich in ihr Bett, sieben Werste von da, zurückgezogen hatten. In Kasan kaufte ich mir endlich wieder ein eigenes Kibitken und setzte nun meinen Weg mit mehr Bequemlichkeit fort.

Zwischen Kasan und Nischni Nowgorod sah ich zu beiden[222] Seiten des Weges so oft um Feuer gelagerte, bewaffnete Gruppen von Menschen, daß ich endlich neugierig wurde, ihre Bestimmung zu wissen. Die Erklärung lautete eben nicht tröstlich. Es waren Leute, die wegen häufig hier vorgefallener Räubereien Wache hielten. Ein berühmter Jahrmarkt in einer nahen Stadt Makarjew lockte die Straßenräuber jetzt besonders in diese Gegend. Mir ist glücklicherweise nichts Verdächtiges aufgestoßen.

Wenn man in jenen Gegenden zum ersten Mal der Post begegnet, so sollte man die Wege für weit unsicherer halten, als sie wirklich sind. Man sieht nämlich das Kibitken, auf welchem der Postkurier liegt, jederzeit von vier bis fünf mit Flinten und Säbeln bewaffneten Bauern umgeben, die zuweilen kaum schnell genug folgen können. Diese Vorsicht gründet sich aber bloß auf einen Befehl Kaiser Pauls, kraft dessen, im Falle daß die Post beraubt wird, der Gouverneur, in dessen Gouvernement es geschehen ist, für allen Schaden haften muß. Natürlicherweise nehmen nun die Herren Gouverneure besonders in jenen wüsten Gegenden alle nur mögliche Vorsichtsmaßregeln; aber dennoch scheint der Befehl mir hart: denn in einem Lande, wo unermeßliche Wälder den Räubern eine sichere Zuflucht geben, welches Menschen Kraft kann da jedes Unglück verhüten?

Als ich mich Nischni Nowgorod näherte, wurden meine Augen durch einen Gegenstand entzückt, dessen Anblick ich seit langer Zeit entbehrt hatte; es waren die ersten Kirschenbäume und die ersten Bienenstöcke. Es ist bekannt, daß in ganz Sibirien – ich weiß nicht, warum – keine Biene so wie kein Krebs gefunden wird. Ebenso wenig gibt es dort Obstbäume, und ich kann daher nicht[223] beschreiben, welchen fröhlichen Eindruck der Anblick meiner alten Bekannten auf mich machte. Nun war ich wieder in Europa und, wie es mir vorkam, meiner Heimat schon nahe!

Von dieser Täuschung ergriffen, wollte ich mir in Nischni, da es eben Mittag war, in einem Wirtshause eine gute Mahlzeit bereiten lassen; aber da war kein andres Wirtshaus als elende russische Kabacken. Ich hielt also vor dem Posthause und machte Anstalten, ein Stück Brot mit Käse in meinem Kibitken zu verzehren, indessen Sukin hinein ging, das schnelle Umspannen zu befördern. Durch ihn erfuhr man im Hause, wer ich sei; und gleich darauf kam ein Bedienter, der mich im Namen der Frau Postdirektorin sehr höflich zum Essen einlud. Mein langer Bart, mein verworrenes Haar und mein zerrissener Schlafrock liehen mir eine sehr gültige Entschuldigung, die Einladung auszuschlagen; sie wurde aber dringend und mit dem Zusatze wiederholt, daß ich ganz allein in einem Zimmer essen solle und daß sich niemand vor mir sehen lassen werde.

Ich konnte dieser Höflichkeit nicht länger widerstehn, zumal da auch mein seit mehreren Tagen wenig versorgter Magen mich antrieb. So stieg ich denn aus und erschien beinahe in der Gestalt des armen Tom in Shakespeares Lear. Man führte mich in ein elegantes Zimmer, wo man einen kleinen Tisch für eine Person servierte und wo ich wirklich einige Augenblicke allein blieb. Doch plötzlich trat eine junge blühende Dame herein, die Frau vom Hause, die mich deutsch anredete und sich mit ihrem Verlangen, meine Bekanntschaft zu machen, entschuldigte.

So ein großer Freund des schönen Geschlechts ich auch[224] bin, so setzte mich doch die Erscheinung meiner Wohltäterin in nicht geringe Verlegenheit. Ich stand ihr gegenüber wie ein Cyniker der Aspasia. Ihre holde Freundlichkeit konnte meine Verwirrung nicht besiegen, wenn mein Blick auf den zerlumpten Schlafrock oder gar in einen Spiegel fiel. Was wurde aber vollends aus mir, als sich nach und nach das ganze Zimmer mit Damen und Herren, Russen und Deutschen vom ersten Range, füllte, die sich alle höflich zu mir drängten, in deren Mitte ich ganz allein, wie ein König von Spanien, essen mußte, die mich bald durch herzliche Teilnahme rührten, bald durch schmeichelndes Lob verwirrten und endlich gar den ersten Band meiner neuen Schauspiele herbeiholten, um die Ähnlichkeit des davor befindlichen Bildnisses an dem langbärtigen Original zu erproben!

So reichliche Nahrung auch mein Körper und meine Eitelkeit hier zugleich bekamen, so gestehe ich doch gern, daß ich dieses Genusses erst recht froh wurde, als ich wieder in meinem Kibitken saß. Dann aber – warum soll ich es leugnen – gewährte es mir eine angenehme schmeichelnde Erinnerung, noch an den Grenzen von Asien und selbst in diesem dem Rufe nach so unwirtbaren Weltteile Freunde meiner Muse gefunden zu haben, die mir in bedrängten Stunden meines Lebens willig Trost und Hülfe entgegenbrachten, weil sie in mir einen alten Bekannten sahen, den sie schon lange lieb gewonnen hatten. O, dieser Lohn ist wahrlich mehr wert als Journal-Lob, das heutzutage – möchte ich beinahe behaupten – an lebende Dichter nie anders als aus trüben Quellen gespendet wird.

Nur noch einmal drohte mir auf der Straße nach Moskau wahrscheinlich eine Gefahr, der ich durch meine[225] Wachsamkeit entgangen bin. Bereits vier Nächte hatte ich der Ruhe entbehrt und beschloß daher eines Abends, weil es überdies stark regnete, bis zum Anbruch des Tages in einem Dorfe zu verweilen. Ich gab gemessenen Befehl, die Pferde um vier Uhr morgens vorzuspannen und mich dann sogleich zu wecken. Geweckt wurde ich wirklich; es kam mir auch bei einem Blicke nach dem Fenster so vor, als bräche der Tag schon an, und ich warf mich nun schnell in das Kibitken. Wassili Sukin fuhr mit seinem Kaufmann in einem Postkibitken vor uns her; das seinige führte ein Knabe, das meinige ein schwarzbärtiger, wild um sich schauender Kerl.

Schon dicht vor dem Dorfe bemerkte ich, daß die Helle, welche ich für den Anbruch des Tages gehalten hatte, nur Mondlicht war. Ich zog meine Uhr hervor und siehe, es war erst Eins. Das fiel mir auf. Die russischen Postillione kommen wie alle in Europa lieber zu spät als zu früh; wie ging es denn nun zu, daß man mich drei Stunden vor der bestimmten Zeit weiterzufahren nötigte? Ich beschloß sogleich, nicht zu schlafen; und da ich, so lange ich mit dem andern Kibitken beisammenblieb, nichts befürchtete, so trieb ich den Kerl fleißig an, nicht zurückzubleiben, was er unter mancherlei Vorwand sehr oft versuchte.

Mein Carpov war gleich anfangs seiner löblichen Gewohnheit gemäß fest eingeschlafen; und solange ich meiner Sache nicht gewiß zu sein glaubte, wollte ich ihn nicht wecken. Der Postillion sah sich sehr oft nach ihm und dann wieder nach mir um. Ich sah ihm jedes Mal starr ins Gesicht, um ihm meine Wachsamkeit zu zeigen. Endlich aber kam ich auf den Einfall, zu versuchen, was wohl daraus entstehen würde, wenn auch ich schliefe,[226] um darnach meine weitern Maßregeln zu nehmen. Ich schloß die Augen, blinzelte aber natürlicherweise so viel als nötig war, um jede verdächtige Bewegung unseres Fuhrmanns auszuspähen. Dies schien mir jetzt höchst nötig. Ich hatte nämlich, als er das letzte Mal abstieg, um einen morschen, alle Augenblick reißenden Strick wieder anzuknüpfen, ein langes Messer bemerkt, welches in einer Scheide an seinem Gürtel hing. Wir hingegen waren gänzlich unbewaffnet, und mit zwei schnellen Stößen rückwärts konnte er, ohne seinen Sitz zu verlassen, uns beide schlafend in die andre Welt befördern.

Kaum hatte ich angefangen den Schlummernden zu spielen, als er sich oft und lange nach mir umsah und mir gleichsam prüfend ins Gesicht schaute. Durch meine Wachsamkeit, mein Schimpfen und Fluchen in Furcht gesetzt, war er bis jetzt immer dicht hinter dem vordern Kibitken geblieben; nun aber fing er wieder an langsamer zu fahren. Um ihn von seiner bösen Absicht zu überfuhren, wollte ich jenes einen kleinen Vorsprung gewinnen lassen, als von ungefähr der Knabe, der es fuhr, anhalten mußte, was bei dem elenden Geschirre der Russen sehr oft zu geschehen pflegt.

Auch wir hielten nun. Unser Postillion stieg ab und stellte sich, als müßte er die Glocke an dem Krummholze fest binden; ich sah aber, da jetzt der Tag bereits angebrochen war, sehr deutlich, daß sie so fest als möglich saß und daß er sich nur vor dem Pferde etwas zu tun machte, um nach mir zu schielen.

Als er glaubte, daß ich fest genug schliefe, rief er mit leiser Stimme den Knaben und fragte ihn etwas, das ich nicht verstehen konnte. Aus der Antwort erriet ich aber[227] leicht, daß er wissen wollte, was die beiden Passagiere im ersten Kibitken machten; denn der Knabe antwortete laut genug: Spit – Sie schlafen.

Nun entspann sich zwischen beiden ein langes leises Gespräch, bei dem mir nicht wohl zu Mute wurde. Ich unterbrach es endlich auf einmal mit einem kräftigen Fluche und gab meinem Postillion gradezu auf den Kopf Schuld, er sei ein Spitzbube! Er beteuerte seine Unschuld; ich behauptete aber dreist, alles, was er gesprochen, verstanden zu haben; prahlte mit der Wichtigkeit unserer Depeschen; drohte ihm mit einer Pistole, (die ich gar nicht hatte); rüttelte meinen Kurier aus dem Schlafe und unterrichtete ihn von dem mutmaßlichen Anschlage; sprang dann aus dem Kibitken und weckte auch Sukin und den Kaufmann. Alle wurden munter, und die einsame waldige Gegend gab meinen Worten noch mehr Nachdruck. Sie schimpften und drohten; der Postillion setzte sich, in den Bart murmelnd, wieder auf und fuhr, ohne weiter um sich zu blicken, davon.

Kaum eine Werst von da, etwa auf dem halben Wege, standen zwei Kerle, die uns zu erwarten schienen; denn ich erblickte sie schon in einer großen Entfernung. Unser Postillion trieb, sobald er sie gewahr wurde, großen Lärm mit seinen Pferden, vermutlich um ihnen anzudeuten, daß wir wachten. Wir fuhren also rasch an ihren verdächtigen Physiognomien vorüber; sie sahen uns neugierig an, wagten aber nichts, und wir kamen glücklich an Ort und Stelle.

Ich bin noch jetzt überzeugt, daß ein Mord- oder wenigstens ein Raubanschlag, vorzüglich gegen mich, geschmiedet war. Alles erklärt sich sehr natürlich. Der Kaufmann fuhr in einem offenen Postkibitken; beim[228] Umpacken hatte man seine geringen Habseligkeiten gesehen, die niemanden eben reizen konnten. In meinem Kasanischen Kibitken hingegen konnten Schätze sein; auch hatte ich abends meinen Reisekasten geöffnet, der eine silberne Kaffeekanne und verschiedne andere Kleinigkeiten von Silber enthielt. Ferner bedurfte es keiner tiefen Menschenkenntnis, um meinen Carpov in der ersten Viertelstunde als einen dummen Jungen kennen zu lernen, mit dem leicht fertig zu werden sei. Die Absicht war also vermutlich, Sukin und den Kaufmann rasch vorausfahren zu lassen, mit mir aber immer weiter und weiter zurückzubleiben, bis man mich zu der Stelle gebracht haben würde, wo die vorausgeschickten Kerle unser warteten. Dort hätte man uns nach Wohlgefallen beraubt oder gar totgeschlagen, und der Postillion würde noch obendrein seine Unschuld haben beteuern können. Was mich noch mehr in dieser Vermutung bestärkt, ist der Umstand, daß der Postillion anfangs immer über seine schlechten Pferde klagte, die nicht von der Stelle wollten; auf der zweiten Hälfte des Weges aber, als ihm nichts mehr daran lag, sie zurückzuhalten, liefen sie offenbar weit besser als die Pferde des Knaben.

So war ich denn der letzten Gefahr, welche mir auf meinem langen einsamen Wege drohte, glücklich entronnen, und am 28sten Julius mittags breitete sich das unermeßliche Moskau vor meinen Blicken aus.

Lange stand ich auf einer Anhöhe, es zu betrachten. Voll froher Hoffnung, hier endlich etwas von meiner Familie zu erfahren, fuhr ich hinein, durchkreuzte die zahllosen Straßen und kehrte in dem Gasthofe einer alten freundlichen Französin ein, der ich durch Herrn Becker empfohlen war. Hier tat ich mir einige Stunden gütlich, so lange[229] es meine Ungeduld erlaubte. Kaum hatte ich mich aber ein wenig erholt und meine Gestalt durch Kamm und Schermesser der menschlichen wieder näher gebracht, als ich auch schon ausging, den Buchhändler Herrn Franz Courtener aufzusuchen, der mir gleichfalls durch Becker als ein sehr wackerer Mann gerühmt worden war. So fand ich ihn denn auch und in seinem Hause die gastfreiste Aufnahme.

Mein erstes Wort war natürlich wieder meine Frau; und siehe da, er erinnerte sich gehört zu haben, daß der Kaiser sie nach Petersburg eingeladen und sie dort wirklich auf das gnädigste empfangen habe. Ängstlich fragte ich, wo gehört, von wem? Daran konnte er sich, leider, nicht mehr erinnern.

Mit ihm besuchte ich den durch seine Briefe eines reisenden Russen auch in Deutschland bekannten, liebenswürdigen Schriftsteller Karamsin, der mich herzlich aufnahm und dem das erwähnte Gerücht gleichfalls zu Ohren gekommen war. Aber auch er wußte nicht mehr, wie oder wo. Indessen versprachen mir beide, sich näher danach zu erkundigen.

Man denke sich übrigens den angenehmen Eindruck, den die ersten Stunden des Lebens und Webens unter Schriftstellern und Buchhändlern auf einen Menschen machen mußten, dem seit vier Monaten kaum ein Buch zu Gesicht gekommen war! In Herrn Karamsins Zimmern hing eine Sammlung von Bildnissen deutscher Gelehrten; und mit ihm selbst sprach ich von Wieland und Schiller, von Herder und Goethe, von meiner lieben Vaterstadt, wo es ihm gefallen hatte.

Ich blieb in Moskau bis zum folgenden Abend, ruhte aus, besah einige Merkwürdigkeiten, schmeichelte mir[230] aber vergebens mit der Hoffnung, nähere Nachrichten von meiner Familie einzuziehen, und hielt daher, was ich gehört hatte, für ein leeres, ohnehin unwahrscheinliches Gerücht.

In Wyschni Wolotschok beschloß ich, da ich nur noch 432 Werste (etwa 62 deutsche Meilen) von Petersburg entfernt war, mich von dem flinken Wassili Sukin zu trennen, und ihn – der bloß aus Gefälligkeit mich nicht verlassen hatte, um mich nicht der Faulheit meines Carpov ganz preiszugeben – jetzt eilig vorauszuschicken, um meine Frau, im Falle daß sie wirklich in Petersburg wäre, von meiner nahen Ankunft zu benachrichtigen. Ich schrieb deshalb einen Zettel, worin ich sie ersuchte, mir bis auf die erste Station entgegenzukommen. Zugleich gab ich ihm die Adresse meines seit vierundzwanzig Jahren unveränderten, redlichen Freundes Graumann, der ihm gewiß würde sagen können, ob sie da sei und wo sie wohne.

Von meinen heißen Wünschen begleitet fuhr er davon, und ich berechnete, daß er wohl vierundzwanzig Stunden vor mir in Petersburg eintreffen könne. Es schien denn aber doch, als ob ich durch das Vertrauen auf Sukins Schnelligkeit den Ehrgeiz meines Carpov geweckt hätte. Er war munterer und tätiger als bisher. Wir passierten das durch den hanseatischen Bund berühmt gewordene Nowgorod, ohne uns aufzuhalten, und überall, wohin wir kamen, war Sukin nur wenige Stunden vor uns abgereist.

Endlich, auf der vorletzten Station, hatte der Eilige sogar seinen Kurierpaß vergessen, ohne welchen er durchaus nicht in Petersburg eingelassen werden konnte. Wir nahmen den Paß mit und fanden ihn auf der letzten[231] Post uns ängstlich erwartend. Es war nachmittags, ungefähr um vier Uhr. Wir brachten unsern Anzug in Eil ein wenig in Ordnung, und mit klopfendem Herzen bestieg ich zum letzten Male mein Kibitken.

In Zarskoje Selo, einem kaiserlichen Lustschlosse, wurden wir drei- oder viermal durch Pikette angehalten, deren Weitläuftigkeit mir manchen Seufzer auspreßte. Aber meine Geduld sollte auf noch härtere Proben gestellt werden; denn ach, gerade an diesem Tage waren eine Menge Truppen nach Gatschina, dem Lieblingsaufenthalte Kaiser Pauls des Ersten, zu der bevorstehenden Revue beordert, und ich begegnete, kaum noch zwölf Werste von Petersburg entfernt, sechs marschierenden Regimentern mit Munitionskarren, Krankenwagen usw., durch welche es unmöglich war, sich einen Weg zu bahnen. Wir mußten also länger als eine Stunde halten. Man denke sich meine Verzweiflung!

Überdies hätte ich mir leicht hier wieder einen schlimmen Handel zuziehen können. Der Großfürst Alexander ritt nämlich an der Spitze der Truppen. Ich kannte ihn nicht; und hätte ich ihn auch gekannt, so wußte ich doch nichts von dem strengen Befehle, vor jeder Person der kaiserlichen Familie auszusteigen. Auch mein indolenter Carpov kannte ihn vermutlich nicht, und wir blieben sitzen; so hätte ich denn von rechtswegen sogleich in ein Polizeigefängnis gebracht werden müssen, wenn der liebenswürdige Großfürst, der mich starr ansah, nicht weit erhaben über das unwillkürliche Vernachlässigen einer solchen Ehrenbezeigung gewesen wäre.

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 199-232.
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Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Als Verbannter in Sibirien

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