191. Der unsichtbare Bauer.
Mündlich.

[206] Nur in der einzigen Johannisnacht, in der Stunde zwischen elf und zwölf Uhr, blüht das Kraut Reenefarre (Rainfarren), und wer diese Blüthe bei sich trägt, der wird dadurch den übrigen Menschen unsichtbar. So ging es auch einmal einem Bauer in der Gegend von Brodewin; der fuhr nämlich grade zu dieser Zeit mit seiner Frau nach der Stadt, um Bier zu holen, und stieg, da die Pferde im Sande nur langsam gehn konnten, vom Wagen, um ein Weilchen nebenher zu gehen. Auf einmal bemerkt seine Frau, daß er verschwunden ist, aber gleichwohl sieht sie, daß die Zügel wie vorher gehalten werden; sie ruft ihn daher, und er antwortet ganz verwundert, ob sie ihn denn nicht sehe, er sei ja dicht neben ihr am Wagen. Aber sie sah ihn nicht, und dabei wars doch, da ja Johannisnacht war, so helle, daß man hätte eine Stecknadel finden können.[206] So gings fort bis nach der Stadt, sie sprach mehrmals mit ihm, er antwortete auch, aber blieb immer noch unsichtbar. Als sie nun nach der Stadt kamen, hörte der Wirth und alles Hausgesinde wohl den Bauer reden, aber sie sahen ihn nicht, so daß dem Bauer ganz angst wurde, weil er nicht wußte, was er daraus machen solle. Da sagte ihm der Wirth, der ein kluger Mann war, er solle doch einmal die Schuhe ausziehen; das that er auch, und augenblicklich war er wieder sichtbar, aber nun war an seiner Stelle der Wirth verschwunden. Nach einer kleinen Weile kam auch dieser wieder zum Vorschein und brachte dem Bauer seine Schuhe, und nun waren beide wieder sichtbar wie zuvor. Das war, wie der Wirth in späterer Zeit einmal erzählt hat, daher gekommen, daß der Bauer während des Gehens mit seinen Füßen die Blüthen vom Rainfarren abgestreift hatte und diese ihm in die Schuhe gefallen waren; daher hatte ihm der Wirth gerathen, er solle dieselben ausziehen und hatte in seiner Kammer die Blüthen herausgeschüttet, die er darauf zu seinem eignen Nutzen, da ja der Bauer nichts davon wußte, aufbewahrt hat.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben. Berlin 1843, S. 206-207.
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