73. Der Kienstubben am Thurm.

Mündlich von einer Bäuerin aus Lichterfelde bei Neustadt E.W.

[71] In der Gegend von Bellinchen in der Neumark war früher weithin nichts als ein großer Wald; in dem hatte sich einmal eine Gräfin verirrt und war schon mehrere Tage, sich nur von wilden Beeren nährend, bald hierhin, bald dorthin gegangen und hatte doch das Ende nicht finden können. Da sah sie endlich einen frisch angehauenen Kienstubben und faßte frische Hoffnung, indem sie dachte, hier müßten doch Leute in der Nähe sein. Sie ließ sich[71] daher auf demselben nieder, um zu warten, ob nicht jemand erschiene, der sie zurecht wiese, denn sie war schon ganz müde und matt, und konnte kaum noch weiter. Ihre Hoffnung trog sie auch nicht, denn sie hatte noch nicht lange da geseßen, da kamen Leute aus Bellinchen und nahmen sie mit in ihre Stadt, von wo sie glücklich in ihre Heimat gelangte. Aus Dankbarkeit hat sie darauf die Kirche zu Bellinchen gebaut und der Stadt ihr ganzes Vermögen vermacht; und zum ewigen Gedächtniß an sie hat man deshalb am Kirchthurme statt des Knopfes einen großen Kienstubben angebracht, der noch bis auf den heutigen Tag dort sitzt.

Quelle:
Adalbert Kuhn / W. Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Leipzig 1848, S. 71-72.
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