Vorrede.

Die vorliegende Sammlung schließt sich an die von meinem Schwager W. Schwartz und mir im Jahre 1848 gemeinschaftlich herausgegebene Sammlung »Norddeutscher Sagen« an und war dort als Ergänzung derselben bereits in der Vorrede (S. IX) in Aussicht gestellt. Dem ebendaselbst ausgesprochenen Zweck unsers Sammelns gemäß, alles, was an Sage und Brauch aus älterer, namentlich heidnischer Zeit im Gebiete der alten Sachsenstämme noch vorhanden war, zusammenzubringen, war daher für diese Sammlung das in den »Norddeutschen Sagen« nur schwach vertretene Westfalen mein Hauptaugenmerk. Ich habe mehrere Jahre hindurch (1848-51) die Sommer- und Herbstferien benutzt, um die zum Theil aus frühern Schriften bereits bekannten Gegenden, in denen die Sage vorzugsweise ihre Stätte aufgeschlagen hat, zu durchwandern oder, den hier oder da mir gewordenen Hindeutungen folgend,[5] neue Gebiete aufzusuchen, die ergiebige Ausbeute versprachen. Was ich so zusammengebracht, liegt nun in dieser Sammlung vor, welcher eine solche der Gebräuche, des Aberglaubens und einiger Märchen, etwa von gleicher Stärke wie der gegenwärtige Theil, folgen wird; ich denke im ganzen damit eine die wesentlichsten Züge der westfälischen Volksüberlieferungen gewährende Grundlage zu bieten, aber auch nicht mehr, denn ich bin mir sehr wohl bewußt, daß die Kräfte des Einzelnen nicht ausreichen, um ein nur einigermaßen sich abrundendes Ganzes aus einem Landstriche zu liefern, der ihm von Haus aus fremd ist. Dazu kommt, daß solchen Forschungen bei der Vereinzelung der Höfe in Westfalen und der daraus entspringenden Abgeschloßenheit seiner Bewohner noch ganz besondere Schwierigkeiten entgegentreten, die für mich um so fühlbarer wurden, als ich während des größten Theils meiner Wanderungen die Unterstützung meines Schwagers entbehren mußte, welcher verhindert ward, sich weiter an der Sammlung zu betheiligen. Unter diesen Umständen war es mir in hohem Grade erwünscht, bei meinem Freunde Fr. Woeste in Iserlohn Unterstützung und Förderung in meinen Forschungen zu finden, welcher nicht nur einen gemeinschaftlichen Ausflug mit mir in das Süderland und das angrenzende Siegensche unternahm, sondern auch durch zahlreiche schriftliche Mittheilungen meine Sammlung vermehrte. Nächst ihm verdanke ich reiche, das siegener Land betreffende Mittheilungen an Sagen, Gebräuchen und Märchen meinem Namensvetter, Herrn Lehrer Kuhn[6] zu Hemschlar bei Berleburg, sowie mich auch die Herren Honcamp in Büren, Neinhaus aus Teklenburg, Bögekamp aus dem Ravensbergischen durch schriftliche und mündliche Mittheilungen, die an den betreffenden Orten verzeichnet sind, unterstützten. Außer dem so gesammelten Stoff schien es mir aber auch zweckmäßig, einige in Zeitschriften zerstreute Sagen in meine Sammlung aufzunehmen, deren Bedeutsamkeit mir eine größere Verbreitung, als sie in solchen Schriften gewöhnlich erhalten, wünschenswerth zu machen schien, namentlich habe ich die von Redeker in der »Westfalia« (Jahrgang 1830) mitgetheilten Sagen vom Wittekind unverändert aufgenommen, da meine eigenen Sammlungen nur Bruchstücke boten und so einen tief in das ganze Volksbewußtsein verwebten Helden nicht in der Bedeutung würden haben erscheinen laßen, die ihm gebührt. Auch die trefflichen Sagen, welche in den »Mittheilungen des Historischen Vereins zu Osnabrück«, sowie in dem »Archiv des Historischen Vereins für Niedersachsen« niedergelegt sind, schien es mir zweckmäßig, in meine Sammlung aufzunehmen, da sie sich den von mir gesammelten in vielen Punkten anschloßen und zum Theil neues Licht über dieselben verbreiteten.

Für die im Norden und Osten an Westfalen grenzenden Gebiete Norddeutschlands lag mir nur daran, den in den »Norddeutschen Sagen« niedergelegten Stoff einigermaßen zu vervollständigen, namentlich die auf frühern Wanderungen gewonnenen Andeutungen weiter zu verfolgen. Hätte ich gewußt, daß so umsichtige und[7] tüchtige Forscher wie Schambach und Müller, sowie H. Pröhle gleichzeitig und zum Theil auf demselben Gebiete wie ich sammelten, so würde ich mich von demselben fern gehalten haben, so aber erfuhr ich von deren Unternehmungen erst, als meine Sammlung schon fast vollendet war. Was ich selbst in dem von ihnen durchforschten Gebiete gesammelt, liegt nun hier vor und liefert den Beweis, daß selbst so umsichtigen und tief eindringenden Sammlern doch nicht selten noch dies und das entgeht, selbst wenn sie sich auf ein verhältnißmäßig wenig umfangreiches Gebiet beschränken. Was aber meiner Sammlung mit der ihrigen gemeinsam ist, möge man als eine willkommene Bestätigung des dort Niedergelegten betrachten; in einzelnen Zügen wird man doch auch in solchen Sagen Abweichungen finden, die eine abermalige Mittheilung gerechtfertigt erscheinen laßen.

Auch für die Gegenden zwischen Elbe und Oder habe ich einige kleine Nachträge geliefert, sowol an Sagen als an Gebräuchen und sonstigen Ueberlieferungen, wie sie mir zum Theil auch von meinen Schülern zugebracht wurden. Ebenso erwähne ich die mir durch meinen Schwager übermittelten Sagen und Gebräuche, die Herr Reinhold von Pommeresche, jetzt studiosus juris, in Rügen und Vorpommern gesammelt hat, da sie zum Theil sehr dankenswerthes Material enthalten.

So viel über den Umfang der Sammlung und ihre Quellen; was ich selbst aus mündlicher Quelle erhalten, ist stets als solches bezeichnet, wobei es mir in vielen[8] Fällen zweckmäßig schien, die äußere Stellung des Mittheilers anzugeben, weil sich danach nicht selten die größere oder geringere Zuverläßigkeit und Genauigkeit einer Mittheilung beurtheilen läßt. Was die Anordnung betrifft, so habe ich auch hier die in den »Norddeutschen Sagen« befolgte als Regel genommen, nämlich das örtlich Zusammengehörige auch zusammenzulaßen. Für manche Sagen mag allerdings die jetzt gewöhnlicher werdende Anordnung nach den durch die Mythologie gegebenen Gruppen zweckmäßig sein, weil sie übersichtlicher ist, für andere dagegen erschwert sie das Verständniß, weil sie das nicht blos äußerlich, sondern auch innerlich Zusammengehörige auseinander reißt; bei nicht wenigen Sagen ist überdies für jetzt noch gar nicht mit Sicherheit zu bestimmen, aus welchem Kreise mythologischer Anschauungen sie hervorgegangen sind. Ich habe daher in der Anordnung dieser Sammlung mit den nördlich der Wesergebirge des linken Ufers gelegenen Gegenden begonnen, bin dann zum Münsterlande, der Grafschaft Mark, dem Süderlande und Siegenschen, dem Paderbornischen, dem Lippeschen und Ravensbergischen übergegangen und habe daran dann zuerst die Sagen aus den Gegenden zwischen Weser und Elbe angeschloßen und ihnen die wenigen aus Pommern und der Mark folgen laßen. Bei der Bezifferung der Sagen habe ich einzelne Nummern mit a, b u.s.w. bezeichnet, nicht immer, weil sie der vorhergehenden Nummer sich an Inhalt anschließen, sondern weil ich sie erst nach Ausarbeitung der Anmerkungen erhielt oder[9] auffand und eine neue Bezifferung daher leicht Verwirrung oder wenigstens Irrthümer in den Citaten hervorzurufen geeignet gewesen wäre. – In der Darstellung habe ich alles treu wiedergegeben, wie es mir zukam; an der Orthographie der niederdeutsch aufgezeichneten Sagen aus den »Mittheilungen des Historischen Vereins zu Osnabrück« und dem »Archiv des Historischen Vereins für Niedersachsen« hätte ich vielleicht ändern sollen, da sie an Inconsequenz leidet, allein es schien mir dies ohne Beirath eines Landeseingeborenen nicht räthlich; überdies sind wir ja gewohnt, uns die Wörter auch bei der mannichfachsten Orthographie mundrecht zu machen.

Den Inhalt der Sagen, welche der Hauptmasse nach aus heidnischen Anschauungen hervorgegangen sind, habe ich auch in dieser Sammlung wie in den »Norddeutschen Sagen« in Anmerkungen als solchen nachzuweisen gesucht, habe dieselben aber hier, um sie leichter nutzbar zu machen, unmittelbar hinter jeder Nummer folgen laßen. Ich habe hierbei möglichst alle Nachweise, wo sich dieselben Sagen oder ähnliche Züge fanden, zu geben und ihre mythische Bedeutung zu begründen gesucht, oft aber auch nur auf Grimm's »Deutsche Mythologie« und die entsprechenden Sagen in andern Sammlungen verwiesen. Bei wichtigern Sagengruppen, wo sich nach meiner Ansicht noch ganze Mythen erhalten hatten, mußte ich natürlich ausführlicher sein und habe die dahin einschlagenden anderweitigen Berichte meist in auszüglicher Darstellung gegeben, um die Gleichartigkeit des Inhalts klarer zu machen. Reichte das so gewonnene[10] Material aus, um die volle Ueberzeugung, daß ein ganzer Mythos vorliege, hervorzurufen, so habe ich auch versucht, seine Bedeutung weiter zu entwickeln. Die Mythensprache der verwandten Völker gewährt uns meist Handhaben zu solchen Entwickelungen, weshalb ich außer den nordischen hauptsächlich auch griechische und indische Mythen für die Vergleichung herbeigezogen habe; ob es mir gelungen ist, damit dieselbe Ueberzeugung wie bei mir auch bei andern hervorzurufen, muß ich erwarten.

Vollendet wurde meine Arbeit schon gegen Ende des Jahres 1857 und ging bald darauf zum Druck ab, der sich indessen verzögert hat; ich habe daher von den neu erschienenen Sagensammlungen und mythologischen Schriften nur diejenigen benutzen können, welche bis zu jenem Zeitpunkt veröffentlicht waren, was ich zum Theil sehr bedauern muß; allein ohne abermalige, sehr erhebliche Verzögerung des Drucks wäre mir die Benutzung bei spärlich zugemeßener Zeit nicht möglich gewesen, weshalb ich es vorzog, endlich abzuschließen. – Die ganze Sammlung habe ich, wie ich schon oben erwähnte, in zwei Theile getheilt, von denen der vorliegende erste die Sagen enthält, der zweite, dessen Druck bereits begonnen hat, die Gebräuche und den Aberglauben nebst einigen Märchen, sowie das Sachregister zu beiden Theilen umfaßen wird.

Ich drücke schließlich allen denen, die mich bei meinen Sammlungen durch Mittheilungen aller Art unterstützt haben, meinen herzlichen Dank aus; diejenigen, welchen[11] ich vorzugsweise verpflichtet bin, habe ich bereits oben bei Angabe meiner Quellen genannt. Hier möge es mir nur noch gestattet sein, namentlich dem hohen Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, das mir bei dieser Sammlung einige Jahre hindurch freigebig eine Reiseunterstützung gewährte, meinen ganz gehorsamsten Dank auszudrücken; er gebührt vor allen dem ehemaligen Director der Unterrichtsabtheilung, dem Wirklichen Geheimen Oberregierungsrath, Herrn Dr. Johannes Schulze, der auch unter schwierigen Zeitumständen mein Unternehmen in jeder Weise durch Rath und That zu fördern bemüht war.


Berlin, am 13. August 1859.


Adalbert Kuhn.[12]


Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 1, Leipzig 1859.
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