11. Das verlorene Urtheil.

Stephanopel.

[236] Zog einmal ein Bauer mit seinem Hunde auf die Jagd, da haben sie ein wildes Schwein gefangen. Als es ans Theilen geht, behält der Bauer das Fleisch für sich und gibt dem Hunde die Knochen. Der aber hat sich darüber mit seinesgleichen berathen, und sie haben Klage eingelegt gegen den Bauer. »Unser Herrgott«, haben sie gesagt, »hat den Hund mehr zum Fleischeßen gemacht als den Bauer.« Da hat das Gericht einen weisen Mann kommen laßen, daß er sein Gutachten in dieser Sache gebe. Der hat gesagt: »Bauer, thu deinen Mund auf!« Da hat er des Bauern Zähne besehen. Dann hat er gesagt: »Hund, mach dein Maul auf!« und so hat er auch des Hundes Gebiß besehen. Darauf hat er den Spruch gethan, der Hund sei im Rechte. Ist nun dem Hunde auf ein Stücklein Pergament das Urtheil geschrieben, er habe ein größeres Recht zum Fleischeßen als der Bauer, und haben die Richter solches Urtheil mit einer bleiernen Bulle versehen und dem Kläger übergeben. Der denkt alsbald: »Wie trägst du das Pergament am besten?« Er steckt's unter den Schwanz und kneift diesen ein. Dann tritt er eilig die Heimreise an. Als er nun unterwegs einen Fluß überschwimmen muß, sieht er sein Bild im Waßer, hält's für einen andern Hund, und, indem er diesem die gute Mär mittheilen will, gibt er nach hündischer Weise seine Freude durch eine Bewegung des Schwanzes kund. Aber ach! das Urtheil fällt in die Tiefe, und er selbst findet beim Wiedersuchen im Waßer den Tod. Den übrigen Hunden muß indeß etwas von dem Vorfalle zu Ohren gekommen sein; denn noch immer[237] hoffen sie den wiederzufinden, der die wichtige Urkunde unter dem Schwanze trägt. Darum ist, wenn ein fremder Vetter kommt, der erste Willkomm immer der, daß sie ihm unter den Schwanz schnüffeln.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 236-238.
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