2. Der verlorene Ring.

Iserlohn.

[221] Ist einmal ein Bursche gewesen, der gab sich in Dienst bei einem Manne, welcher viele Bücher hatte. Es ward ihm vergönnt, alle diese Bücher zu lesen, nur eins nicht, das verwahrte der Herr in einem wohlverschloßenen Kasten. Aber der Diener ward desto begieriger darauf, und als sein Brotherr eines Tags ausgegangen war, erbrach er den Kasten und nahm sich das Buch. Er fand darin eine Menge Zaubersprüche. Als er die gelesen, macht er sich weg und kommt in eine Stadt, wo alles schwarz behangen und voll Trauer war. Auf seine Frage, was dies bedeute, sagt ihm das Volk, des Königs Tochter habe einen Ring verloren und sei deshalb in einen Thurm gesetzt, wo sie verhungern müße, wenn sich der Ring nicht wiederfinde. Am Abend verwandelt sich der Bursche in eine Ameise, kriecht den Thurm hinauf, dann an die Brust der Prinzeßin und beißt sie. Da ruft diese eine Dienerin, welche vor der Thür wachen mußte, und verlangt, daß sie einmal zusehe, was sie da habe. Die fand aber nichts, weil die Ameise unterdeß schon in den Strumpf der Prinzeßin gekrochen war. Als die Zofe sich wieder entfernt hatte, nimmt die Ameise Menschengestalt an, steht hinter der Prinzeßin, klopft sie auf die Schulter und fragt, warum sie hier sei. Diese erzählt: »Ich habe einen Ring fallen laßen, den hat eine Taube verschluckt; darum muß ich[221] hier sitzen.« Da sagt der Bursche: »Sei getrost! ich will dir schon helfen.« Darauf kriecht er als Ameise wieder den Thurm hinunter, wird abermals Mensch und geht zum Könige, den er auch nach der Ursache der Landestrauer fragt. Der erzählt ihm dasselbe und fügt hinzu: »Von dem Ringe hängt das Wohl meines Landes ab; um ihn wiederzufinden, habe ich schon viele Tauben schlachten laßen, aber immer vergebens.« – »Wer den Ring wiederschafft«, fragt der Bursche, »soll der die Prinzeßin zur Frau haben?« – »Ja«, sagt der König. Nun verlangt der Jüngling, daß alle Tauben zusammengetrieben würden; was auch geschieht. Da zeigt er auf eine fuchsige und sagt: »Die ist es.« Sie wird geschlachtet und der Ring gefunden. Die Königstochter erhält sofort ihre Freiheit, fällt ihrem Erretter um den Hals und dankt ihm. Aber der König will sein Wort nicht eher lösen, bis der Bursche noch einen Auftrag ausgeführt haben würde. Als dieser begehrt denselben zu erfahren, sagt der König: »In einer Höhle meines Landes wohnt ein Drache mit sieben Häuptern, dem ich jeden Morgen sieben Säue zum Fraß senden muß. So du mein Eidam werden willst, mußt du ihn zuvor erlegen.« Der Jüngling geht darauf ein und begibt sich des andern Morgens zur Höhle. Der Drache geberdet sich furchtbar, als er ihn kommen sieht; er aber springt zuvor in ein Seitenkämmerlein. Hier sieht er ein gewaltiges Schwert an der Wand hangen, mit der Aufschrift: »Um mich zu schwingen, mußt du Kraft aus jener Flasche trinken.« Alsbald greift er nach der Flasche und leert sie. Da fühlt er, wie ungeheuere Kraft seinen Arm durchströmt, ergreift das gewaltige Schwert und tritt den Drachen an. Der speit zwar Feuer, aber es hilft ihm nichts; von seinen sieben Häuptern fällt eins nach dem andern. Als das Unthier todt[222] ist, bringt der Sieger die Häupter zum Könige und empfängt den Preis seiner That, die Prinzeßin.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 221-223.
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